»In den vergangenen Jahren hat sich bei vielen linken und feministischen Zusammenschlüssen eine eher ungewöhnliche Praxis durchgesetzt: die Pronomenrunde. Ob bei der persönlichen Vorstellung, im Chat oder beim Profilnamen in sozialen Medien, eine wachsende Zahl an Personen sieht sich dazu veranlasst, ihren Mitmenschen explizit über das eigene Geschlecht Auskunft zu geben. Für die einen ist die Pronomenrunde eine hilfreiche Unterstützung im Zuge ihrer Geschlechtsangleichung, für die anderen spielt sie dahingehend eigentlich keinerlei Rolle. Sie bietet aber auch eine Gelegenheit, die eigene, vermeintlich geschlechterreflektierende Tugendhaftigkeit zu demonstrieren.
Nach der Lektüre von Texten der schweizerischen feministischen Theoretikerin Tove Soiland ist man geneigt, die Frage nach dem Sinn von solcherlei Sprachpraktiken auf eine bei jüngeren Feministinnen vermutlich eher unpopuläre Weise zu beantworten. Die Pronomenrunde könnte womöglich schlicht Ausdruck der gegenwärtigen Sexualkultur sein, ›in der wir beständig dazu aufgerufen sind, alle Facetten unseres intimsten Seins offen und schamlos zu entfalten‹. Neun ihrer Texte sowie drei Interviews sind nun im von der Sozialwissenschaftlerin Anna Hartmann herausgegebenen Sammelband Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die Gegenwart erschienen.[…]
In dem neuen Band, der subjekttheoretische, geschlechterpolitische und zeitdiagnostische Beiträge versammelt, dechiffriert die Autorin in ihren Texten nicht nur die Wandlungen und Auslassungen in den englisch- und deutschsprachigen Rezeptionen der Schriften der französischen Feministin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray, sondern auch die unterschiedlichen Wege, die Vertreter und Vertreterinnen des westliche Postmarxismus oder der in der Ljubljana School entwickelten Lacan- und Marx-Rezeption einschlugen. Soiland arbeitet mit Marx’ Wertkritik und Warenanalyse, Irigarays Theorie der sexuellen Differenz sowie dem Lacan-Marxismus, den Slavoj Žižek, Alenka Zupančič oder Massimo Recalcati entworfen haben. Sie macht dabei unter anderem auf die Leerstellen der poststrukturalistischen und queertheoretischen Interpretationen von Lacan aufmerksam. […]« – Marco Kammholz, jungle world 27.04.2023