kritisch-lesen.de über ›Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. IV‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen kritisch-lesen.de über ›Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. IV‹


»Warum Abdullah Öcalan von einer Krise im Nahen Osten spricht, sollte angesichts der komplizierten Lage in der Region nicht schwer zu verstehen sein. Jahrzehntelange Bürgerkriege, zunehmende ökologische Zerstörung, dass Erstarken islamistischer Bewegungen, anhaltende konfessionelle Konflikte sowie imperialistische Besatzung und Neuordnung. Doch um diese Krise nicht nur als eine Krise des Moments und als eine auf den Nahen Osten beschränkte zu begreifen, sondern als Teil der weltweiten Zivilisationskrise, ist es wichtig, sich den Schriften Öcalans zu widmen. Worin besteht diese Krise der Zivilisation, was sind ihre Ursprünge und wie kann eine Lösung aussehen? Diese grundlegenden Fragen und der Versuch, Antworten darauf zu finden, ziehen sich durch das fünfteilige Werk Manifest der demokratischen Zivilisation, dessen vierter Band mit Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten nun vorliegt. Es ist das elfte Buch, das es seit Öcalans Inhaftierung im Jahre 1999 durch die Gefängnismauern Imralis hinaus in die Welt geschafft hat.

Die Anwendung der Theorie in der politischen Praxis im Nahen Osten

Die Lösungen, die Öcalan vorschlägt, sind nicht nur theoretische Konzepte, geschrieben auf Tausenden von Seiten. In den letzten Jahrzehnten hat die Freiheitsbewegung Kurdistans auf der Grundlage Öcalans Ideen eine greifbare Alternative für die gesellschaftlichen Probleme des Nahen Ostens geschaffen – nicht zuletzt in den befreiten Gebieten der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens. Hier, wie auch in anderen Teilen Kurdistans, entsteht ein gesellschaftliches Gefüge, auf den grundlegenden Prinzipien von Frauenbefreiung, einer ökologischen Lebensweise, rätedemokratischen Strukturen und der Fähigkeit, die Errungenschaften selbst zu verteidigen.

Das Spannende an diesem Buch ist, dass seine Ideen bereits in die Praxis umgesetzt wurden. Doch erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung 2010 und seinem direkten Einfluss auf die politischen Entwicklungen in Kurdistan, liegt es in deutscher Übersetzung vor. Dies eröffnet uns die Möglichkeit, immer wieder von den geschriebenen Seiten aufzublicken und das gelesene mit der politischen Realität in Kurdistan ins Verhältnis zu setzen. […]

Geschichte(n) der Freiheit

Ganz nach der bekannten Methode Öcalans verhandelt er auch in diesem Band zu Beginn die Bedeutung der Geschichte auf einer universalen Ebene, als die Geschichte der Zentralzivilisation. Diese Zivilisation begreift er dabei wie folgt: ›Der fünftausendjährige Prozess der Zentralzivilisation selbst besteht aus verdichtetem, institutionalisiertem gesellschaftlichen Reichtum – einer gesellschaftlichen Akkumulation, die größtenteils durch brutale Kriege, Gewaltapparate und Staaten verwaltet wird‹ (S. 30). Für diesen universellen Charakter der Geschichte reicht sein Interpretationsstrang von der ersten Herausbildung von Macht rund um die nahöstlichen Stadtstaaten Uruk und Ur in Mesopotamien, bis zur Verlagerung des hegemonialen Zentrums der Zivilisation über Florenz, Genua und Venedig, nach Amsterdam und England, bis in die USA. Diese Analysen sind wichtig, um nicht einer eurozentrischen Sichtweise aufzusitzen und das geschichtliche Band, welches Europa so eng mit dem Nahen Osten verbindet, zu übersehen. So stark die Zentralzivilisation die Universalgeschichte der Menschheit auch prägt, so wichtig ist es, nicht zu vergessen, ›dass der dominante Faktor in der Universalgeschichte demokratischen Charakters ist‹ (S. 131), der in der demokratischen Zivilisation ihren Ausdruckt findet. […]

In diese historische Betrachtungsweise, in der das Spezifische immer mit dem Allgemeinen verbunden wird, ordnet Öcalan sowohl die universellen als auch die spezifischen Krisen, wie auch Widerstände und Lösungen ein. Und so vertieft Öcalan die bereits in Soziologie der Freiheit  als ›gesellschaftliche Frage‹ überschriebenen Herausforderungen der Menschheit, nun im Zusammenhang der nahöstlichen Gesellschaft. Und auch die ›historischen Widerstände und Lösungsversuche in der nahöstlichen Gesellschaft‹ (S. 95), unterzieht Öcalan im dritten Teil des Buches einer ausführlichen Analyse. Denn, so argumentiert Öcalan, ›wer nicht seine eigene Freiheitsgeschichte richtig schreiben kann, kann auch nicht frei leben‹ (S. 123). Hierbei arbeitet er die demokratischen Strömungen in den historischen Stämmen bis hin zu Völkern, als auch in religiösen Gemeinschaften und Klassenkämpfen heraus. Im Zentrum dabei stehen die Beispiele des Widerstands der semitischen und hurritischen Stämme ab dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, sowie verschiedene religiöse Gemeinschaften, wie im Islam, Christentum, Manichäismus oder der zarathustrischen Kultur. Solch eine Perspektive einzunehmen, Widerstand und Lösung in unterschiedlichen Bewegungen und im Besonderen in religiösen Zusammenhängen zu sehen, erscheint für viele abwegig, fallen diese doch nicht durch revolutionäres Vokabular ins Auge. […]

Der vierte Band ist für alle, die den Erfolg der Revolution in Rojava verstehen wollen, ein Lehrstück. Doch nicht nur das: Dieser Band ist die Ermutigung, mehr über die Verfasstheit der eigenen Gesellschaft zu begreifen. Es kann als Methode dienen, das global gedachte Paradigma der demokratischen Moderne in der eigenen Gesellschaft von den Stammesgesellschaften bis zur heutigen Zeit wiederzufinden. Aus den Widerständen und der vergangenen Suche nach Lösungen, ergibt sich das Programm für den Aufbau der demokratischen Moderne im Hier und Jetzt. Somit ruft dieser Band zur Nachahmung auf, eine solch tiefe Analyse der Geschichte der demokratischen Zivilisation für weitere Geografien und Gesellschaften zu schreiben. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen.

Angesichts jahrzehntelanger Isolation darf man fragen, woher Abdullah Öcalan die Kraft für den Kampf gegen seine Inhaftierung und für Frieden und Freiheit nimmt. Der vorliegende Band, wie alle seine vorigen Schriften, geben uns Auskunft darüber: Es ist die tiefe Überzeugung von einem gesellschaftlichen Potenzial für Freiheit, das aus jeder Zeile seiner Werke spricht.« – Thomas Mainz, kritisch-lesen.de 11.07.2023

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