»Was ›ist noch ungehorsam, wenn es keine auf Gewalt basierende Autorität als Gegenüber mehr gibt, die den Gehorsam einfordert?‹, fragen die Herausgeberinnen und beschreiben mit Foucault und Gramsci die im Neoliberalismus veränderten Formen von Herrschaft und (Selbst-)Führung. Der auf Henry David Thoreau zurückgehende Satz ›nicht alles tun‹ bedeutet für sie in diesem Kontext ,,einerseits, nicht mitzumachen, sich zu verweigern, zu blockieren, zu sabotieren und bedeutet andererseits, sich nicht dumm und passiv machen zu lassen, also wenigstens etwas zu tun – was und was nicht, unter welchen Umständen und wie, genau das steht zur Debatte.‹
Nicht (mehr) an Staat und Justiz appellieren
Dem könnte entgegengehalten werden, dass zunehmende staatliche Repression und Militarisierung nach Innen (!) und Außen das gesellschaftliche Kräfteverhältnis ›Staat‹ derzeit wieder klarer als auf Gewalt basierende Autorität hervortreten lassen. Trotzdem ist die Frage interessant, die sich um den neuen Begriff des ,,Sozialen Ungehorsams‹ rankt, seit dieser 2001 von den italienischen Tute Bianche (später Disobbedienli/die Ungehorsamen) in die linksradikale Begriffswelt geworfen wurde: Wie könnte zeitgemäßer Ungehorsam aussehen, der grundsätzliche Veränderung anstrebt und nicht an den Staat und dessen Justiz appelliert? Wie und wo kann Ungehorsam geleistet werden gegen die alltäglichen Zumutungen des Kapitalismus und die eigene Eingebundenheit darin?
Lou Marin erinnert in seinem Beitrag daran, dass die ›Radikalität‹ zivilen Ungehorsams schon vielfach praktiziert und diskutiert wurde, aber vieles davon mittlerweile in Vergessenheit geraten ist. In seiner historischen Übersicht stellt er die wichtigen Aktionen und Kampagnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts in Südafrika und Indien, über die Bürgerrechtsbewegung der USA, die l 968er, die Neuen Sozialen Bewegungen bis heute dar. […]
Es geht um einen Angriff auf die Spielregeln
Jens Kastner und Gerald Raunig zeigen in ihrem Abschlusskapitel Aspekte auf, die sie ›als zentrale Komponenten jeder zeitgemäßen Vorstellung von Ungehorsam verstehen‹. Demnach scheint ihnen, wiederum ausgehend von Annahmen moderner Gouvernementalität und biopolitischer Verfasstheit der Subjekte, unter anderem ›eine reduzierte Fokussierung auf Gesetz, Recht und Staat weder theoretisch ausreichend, noch für aktuelle Praxen des Ungehorsams relevant zu sein‹.
Dagegen sehen sie den ›Ausweg nicht im Bruch als Negation oder einer dialektischen Form von Widerstand, sondern gerade in einer Kombination aus radikalem Ungehorsam und Exodus, also offensiver, kollektiver Flucht.( … ) Es geht nicht allein um den Entwurf neuer Spielzüge, von Taktiken, um den Gegner auszuspielen, sondern um einen Angriff auf die Regeln, auf den Glauben an das Spiel selbst‹ – um Erfindungen, ,,die die Regeln des Spiels abändern und die Kompassnadel des Gegners zum Rotieren bringt‹ Wie solche Verhaltensweisen und Aktionen aussehen könnten, bleibt allerdings unbeantwortet. »nicht alles tun« bietet durch die sehr unterschiedlichen Betrachtungen und Begründungen von Zivilem/Sozialem Ungehorsam viele Anregungen für eine aktuelle Debatte und geht damit über die im aktivistischen Alltag dominierenden Fragen nach Bündnissen und taktischen Fragen der konkreten Durchführung mehr oder weniger massenhafter Aktionen weit hinaus. « – Marc Amann, analyse und kritik #542, 18. September 2009