»Die vorliegende, über fünfhundert Seite starke Anthologie gibt erstmals einen komprimierten und notwendigen Überblick zur kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. Dabei wollen die vier Herausgeberinnen ›neue kritische Perspektiven auf Debatten um Kolonialismus, Rassismus, Feminismus und Postkolonialität‹ entwerfen und ›eine grundlegende Resituierung von Rassialisierungsprozesse – von Schwarzsein ebenso wie Weißsein‹ anstreben. Eine große wie schwierige Aufgabe, nicht zuletzt weil jedes der genannten Themenfelder eine Vielzahl von unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Ansätze und aktivistischen Praxen und Positionen vereint.
Dennoch schaffen es die Herausgeberinnen zentrale Ansätze der in den USA entwickelten CWS (Critical Whiteness Studies) aufzugreifen und in den deutschsprachigen Raum zu übersetzen. Ihren Anfang fanden die CWS mit den Analysen Schwarzer Menschen und People of Colour, die durch den tagtäglich erfahrenen Rassismus einen hegemonialkritischen Blick auf Weiße und Weißsein entwickelten. Für die kritische Weißseinsforschung bedeutet das, den Widerstand, die emanzipatorischen Kämpfe Schwarzer Menschen, von People of Colour und MigrantInnen in Deutschland und ihr Wissen über weiße Hegemonie als ein ›Wissensarchiv‹ zu begreifen. Dieses ›Wissensarchiv‹ ist im Buch unter dem Kapitel ›Schwarze Perspektiven zu Weißsein in Deutschland‹ versammelt und wird mit Beiträgen aus Praxis und Wissenschaft, mit Essays und literarischen Texten vermittelt. Kien Nghi Ha beschreibt beispielsweise die Fortsetzung kolonialer Politik in der Gegenwart, Jinthana Haritwaworn thematisiert die Überschneidungen von Ethnizität, Geschlecht und Sexualität oder Aretha Schwarzbach-Apithy analysiert ihre diskriminierenden Erfahrungen als Schwarze Studentin in Seminaren über Weißseinsforschung an deutschen Universitäten. Die mehr als zwanzig ›Schwarzen Perspektiven‹ zeigen, dass die kritische Weißseinsforschung nicht ohne Schwarze wissenschaftliche, künstlerische und aktivistische Perspektiven auskommen kann und eine Vereinnahmung der CWS durch die weiße universitäre Forschung unzulässig ist.
Den ›Schwarzen Perspektiven‹ werden ›Kritische weiße Perspektiven‹ gegenübergestellt. Letztere fragen nach der individuellen und strukturellen Verankerungen weißer Privilegien in der Mehrheitsgesellschaft, verorten und reflektieren weiß-Sein vom Standpunkt weißer Frauen und Männer. Welchen Platz die Erfahrungen von Juden/Jüdinnen in der kritischen Weißseinsforschung in Deutschland einnehmen, ob sie Teil der ›Schwarzen Perspektiven‹ sein können/wollen, wird im Buch u.a. beantwortet durch die Positionierung des Beitrags von Sander L. Gilman ›Die jüdische Nase: Sind Juden/Jüdinnen weiß?‹ unter den ›kritischen weißen Perspektiven‹. Eine diskussionswürdige Entscheidung, bedenkt frau, dass die Verwendung des Konzepts des Schwarzseins als übergreifende Kategorie für alle ethnisch Minorisierten in feministisch-antirassistischen Kontexten in Deutschland bei einigen weißen Jüdischen und Schwarzen Feministinnen aus unterschiedlichen Gründen immer wieder auf Ablehnung gestoßen ist und innerhalb der Zusammenschlüsse von Migrantinnen, Schwarzen und Jüdischen Frauen für Debatten sorgte.
Das Buch zeigt die Heterogenität der Weißseinsforschung und dekonstruiert weiße Privilegien und Herrschaftsverhältnisse umfassend. Dabei darf auch eine Auseinandersetzung mit dem ›weißen‹ Feminismus nicht fehlen. Sie wird anhand der Frage diskutiert, wie rassistisches Wissen konstruiert und Migrantinnen, Schwarze und Jüdische Frauen aus der Frauenbewegung in Deutschland ausgeschlossen wurden/werden. Ohne Zweifel, eine notwendige Kritik. Die Koalitionen zwischen Feministinnen mit unterschiedlichen Hintergründen, Herkünften, Erfahrungen und sozialen Positionen hätten jedoch verstärkt berücksichtigt werden können.« – Rosa Reitsamer, sic! Nr. 57, Juli 2006