Der schwangere Mann
Rezension von Judith Wolf
Helîm Yûsiv ist ein kurdischer Schriftsteller, der aus Amûde im kurdischen Teil Syriens stammt und als politischer Flüchtling in Deutschland lebt. Das erste seiner fünf, bisher auf Kurdisch, Arabisch und teilweise auch auf Türkisch erschienenen Bücher liegt nun in deutscher Sprache vor: »Der schwangere Mann« – ein Kurzgeschichtenband.
Mit seinen Erzählungen, die im syrischen Teil Kurdistans spielen, über den weitaus weniger bekannt ist, als über den kurdischen Teil der Türkei und des Iraks, möchte uns der Autor, wie er im Vorwort selbst sagt, an die Hand nehmen und »an die Orte führen, die nicht nur vom Staat, sondern auch von Gott vergessen wurden«. Helîm Yûsiv stellt uns die Menschen und Orte seiner Heimat in einer sehr einfachen, gut lesbaren und – zumindest im kurdischen Kontext – geradezu unverschämt direkten Sprache vor, die gleichzeitig von überwältigender Symbolkraft ist und eine beißende Ironie in sich birgt.
Außergewöhnlich werden Helîm Yûsivs Geschichten dadurch, dass er nicht einfach nur, wie es unter kurdischen Schriftstellern sehr verbreitet ist, die dramatische Geschichte und Unterdrückung der Kurden durch die jeweiligen Staaten in ein literarisches Gewand hüllt, sondern deren Verwicklung mit Problemen innerhalb der kurdischen Gesellschaft zur Sprache bringt. Seine Geschichten berühren Themenfelder wie Religion, Politik, Geschlechterbeziehungen und eine damit verbundene Doppelmoral. Dabei ordnet er sich keiner vorgegebenen gesellschaftlichen Ideologie unter: Nicht gesellschaftliche Normen, nicht das, was sein sollte, sein könnte oder moralisch richtig wäre, spiegelt sich in seinen Geschichten wieder, sondern genau das, was er in seiner Umgebung als Tatsachen wahrnimmt – und das spricht Yûsiv unverblümt aus. Für diese Direktheit musste der Autor dann auch seinen Preis zahlen: Einige Personen aus seiner Heimatstadt Amûde, die sich in seinen Geschichten wiedererkannten, haben ihm seine Offenheit mit Prügel vergolten.
Der auf dem Einband zitierte Kommentar von Xalid Xalîfe trifft den Nagel auf den Kopf: »Die Geschichten aus ›Der schwangere Mann‹ kommen ohne Kleidung, ja selbst ohne Flicken, das heißt völlig nackt, zu uns«. Diese Nacktheit der Geschichten springt einem tatsächlich mitten ins Gesicht und lässt einen nicht mehr so schnell los. Auf dem Spaziergang durch Helîm Yûsivs Erzählungen überkommen einen, kaum dass man über eine witzige Formulierung vor Lachen fast platzt, im nächsten Augenblick schon wieder Tränen.
Die Erzählungen in »Der schwangere Mann« sind fünf Elementen zugeordnet. Genauer gesagt sind dies die vier Elemente aus der griechischen Naturphilosophie – Erde, Wasser, Feuer, Wind (Luft) –, die hier als allen Menschen gemeinsam gelten. Diesen fügt der Autor noch ein fünftes Element, das Blut, hinzu, welches die blutige, von Kolonisation, Krieg, Verfolgung und Tod gezeichnete Geschichte und Gegenwart der Kurden symbolisiert und die Differenz zu allen anderen Menschen markiert.
Die der Erde zugeordneten drei Erzählungen sind Milieugeschichten über Menschen in Südwestkurdistan (Syrien), stehen aber auch exemplarisch für das Leben in einer orientalischen Gesellschaft allgemein. Hierzu gehört die Geschichte »Der schwangere Mann«, die auch dem gesamten Erzählband den Namen gab. Das Schwangersein eines Mannes, ein unnatürlicher Zustand, der schlicht und ergreifend unmöglich ist, steht für die Absurdität des Lebens der Kurden in Syrien.
Die Hauptrolle in den folgenden vier Geschichten, die dem Element Wasser zugeordnet sind, spielt jeweils ein Sufi (im Kurdischen Sofî). Sufis sind von einem Şêx ausgewählte gläubige Menschen, die trotz ihres Ansehens unter den Muslimen Kurdistans sehr arm sind und nach Ansicht des Autors vielleicht deswegen nicht selten dazu verleitet werden, die Gläubigen zu hintergehen. In allen vier Geschichten geht es um den nicht greifbaren Charakter dieser Sufis, einen Charakter, der einem wie Wasser durch die Finger rinnt, sobald man glaubt, ihn in der Hand zu halten. Am schönsten ist vielleicht die Geschichte »Die rätselhafte Ziege«, welche die Ehre (namûs) thematisiert.: Sie stellt uns Sofî Qorzîk vor, der bei dem Versuch, seine Ehre – ob nun in Gestalt seiner Tochter oder einer Ziege – wiederherzustellen, am Ende selber wie ein dummes Tier, nackt, mit langem Bart und auf allen Vieren mit einer Schafherde umherirrt und Gras frisst.
Im Zentrum des Buches findet sich, dem Element Blut zugeordnet, die wohl schmerzhafteste Geschichte des Bandes: »Mem erwacht vom Tod«. Als der aus dem kurdischen Epos »Mem û Zîn« bekannte Mem nach langem Schlaf vom Tod erwacht, liegt seine geliebte Zîn nicht mehr neben ihm im Grab. Auf der Suche nach seiner Liebe findet er sich dort, wo einst sein Land Kurdistan, das Fürstentum Botan, blühte, in einer abgrundtiefen Hölle wieder: Das Land ist ausgetrocknet, von fremden Soldaten übersäht, das Leben besteht aus Angst, Verrat und Tod. Selbst die Liebe bringt Verrat und Tod ¼ Aber Mem, der tote Irre, liebt!
Im vierten Teil, der dem Feuer gewidmet ist, begegnet man Menschen mit großen Träumen von Liebe, Freiheit oder sonstigem, die sie unter den gegenwärtigen Bedingungen niemals erreichen können. Das Feuer symbolisiert die Situation in Kurdistan, die jeglichen menschlichen Traum verbrennt. So erzählt zum Beispiel »Das Dreieck und das Viereck« von einem Intellektuellen, der von einem verantwortungsvollen Posten, der ihm öffentliches Ansehen einbringt, einer schönen, nackten Frau und viel Geld träumt. Auf der Suche nach seinen Träumen, von denen sich kein einziger erfüllt, wird er von der grausamen Realität eingeholt, einem äußerst brutalen Folterinstrument aus dem osmanischen Reich.
Um in Frieden und Freiheit leben zu können, brauchen Menschen Luft zum Atmen. Dafür steht der Wind. Die dem Wind zugeordneten vier Geschichten handeln von der Unterdrückung in Kurdistan, die den Menschen den Atem raubt. Es gibt keine Luft zum Atmen, keine Luft zum Leben, keine Luft zum Lieben, keine Luft, um als Mensch zu handeln. »Biographie eines Schuhs« etwa erzählt von der katastrophalen Situation, dass Menschen eigentlich nur Respekt voreinander haben, solange sie einander irgendwie für irgendeinen Zweck benutzen können. Sobald jemand aber einen anderen Menschen nicht mehr braucht, wirft er ihn weg wie einen alten Schuh. Auch die letzte Geschichte des Bandes, »Die Welt ist enger als eine Toilette«, erzählt davon, dass man eigentlich nirgends in Ruhe atmen oder auch nur seinen Gedanken nachhängen kann, außer auf der Toilette – und selbst dort holt einen die Verfolgung ein: Die Toilette, der Ort der letzten Zuflucht, wird plötzlich zu einem riesigen Mund mit Zähnen. Selbst hier wird man am Ende gejagt, zermalmt und gefressen.
Mit »Der schwangere Mann« eröffnet Helîm Yûsiv ungewöhnliche Innenansichten kurdischen Lebens. Eine gleichermaßen tiefgreifende und kurzweilige Lektüre, die sich lohnt – sowohl für Menschen, die einfach gern lesen, als auch für jene, die sich professionell mit der Analyse der kurdischen Gesellschaf befassen.
erscheint in Kürze in der verspäteten Ausgabe Kurdische Studien 3):
Kurdische Studien 3 (2003) 1&2, S.
221-223, ISSN 1617-5417
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Der schwangere Mann. Erzählungen / Helîm Yûsiv. – Münster: Unrast, Edition arArat Bd. 4, 2004. – 161 S. ISBN 3-89771-853-7 (Pp.) : Eur 14,00.