Rezension von Jochen Weichold

UNRAST VERLAG Pressestimmen Rezension von Jochen Weichold

für die Zeitschrift ‘JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung’

Der Text „Politik der Internationale“ gilt wegen seines Bezuges auf die autonomen Kämpfe der Arbeiter als eines der Schlüsseldokumente des revolutionären Syndikalismus. Im Anhang des vorliegenden Bandes geht Maurizio Antonioli der Frage „Bakunin – ein Syndikalist?“ nach. Der italienische Historiker von der Universität Mailand skizziert die zum Teil erbittert geführte Debatte, die von Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zwischen Anarchisten und Anarchosyndikalisten bzw. revolutionären Syndikalisten zu dieser Frage geführt wurde, ohne sich allerdings selbst klar zu positionieren.

In der Organisationsfrage erwies sich Bakunin sehr hellsichtig. Im Sinne einer Ziel-Mittel-Identität argumentierte er in „Die Organisation der Internationale“ gegen hierarchische Organisationsformen und plädierte für eine alternative Organisierung: „Da die Organisation der Internationale nicht das Ziel hat, neue Staaten oder Despotismen zu schaffen, sondern alle Herrschaftsformen radikal zu beseitigen, muss sie sich von der Organisation der Staaten grundlegend unterscheiden. So autoritär, künstlich und gewalttätig, der natürlichen Entwicklung der Volksinteressen und -instinkte fremd und feindlich die letztere ist, so frei, natürlich, in allen Punkten diesen Interessen und Instinkten gemäß muss die Organisation der Internationale sein.“ (S. 73)

In diesem Kontext wandte sich Bakunin gegen eine Strukturierung der Organisation der Internationale in Führer und Geführte. Er war der Überzeugung, „dass von dem Augenblick an, in dem die Internationale Assoziation sich in zwei Lager teilt: eine große Mehrheit an Mitgliedern, deren ganze Wissenschaft in einem blinden Vertrauen in die theoretische und praktische Weisheit ihrer Anführer bestünde, und eine kleine Schar von lediglich ein paar Dutzend leitenden Individuen –, sich diese Institution, die dazu berufen ist, die Menschheit zu befreien, selbst in eine Art oligarchischen Staat, den schlimmsten aller Staaten, verwandeln würde. Mehr noch: diese hellsichtige, gebildete, gewandte Minderheit würde mit allen Verantwortungen auch alle Rechte einer Regierung wahrnehmen, sie würde umso uneingeschränkter regieren, als ihr Despotismus hinter der scheinbar beflissenen Achtung des Willens und der Beschlüsse des souveränen Volkes verborgen bliebe – Beschlüsse, die sie übrigens selbst diesem vermeintlichen Volkswillen erst eingeflüstert hätte. Diese Minderheit würde also, in Befolgung der Notwendigkeiten und Bedingungen ihrer privilegierten Position, das Schicksal aller Regierungen teilen, das heißt, bald immer despotischer, bösartiger und reaktionärer werden.“ (S. 82/83)

Der stalinistische Parteitypus sollte die Befürchtungen Bakunins zum Teil noch übertreffen. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob nicht Bakunin mit seiner Befürwortung von (revolutionären) Geheimorganisationen die parteipolitische Hierarchisierung in Führer und Geführte – allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – perpetuierte und damit seine berechtigten Warnungen konterkarierte.

In der Staatsfrage formulierte Bakunin in „Protest der Allianz“ das anarchistische Credo der Abschaffung von Staat und Politik. Die Abschaffung der Politik sei der wesentliche Punkt, „an dem wir uns absolut von den radikalbürgerlichen Politikern und Sozialisten trennen“. Deren Politik bestehe in der Nutzung, Reformierung und Veränderung der Politik und des Staates, „während unsere Politik, die einzige, die wir anerkennen, auf die totale Abschaffung des Staates und der Politik, die seine notwendige Erscheinungsform ist, abzielt“ (S. 108). In „Die Organisation der Internationale“ notierte Bakunin: „Wenn sich die Internationale als Staat organisieren könnte, würden wir, ihre überzeugten und leidenschaftlichen Verfechter, zu ihren erbittertsten Feinden.“ (S. 76)

Karl Marx und Friedrich Engels betonten in der Auseinandersetzung mit derartigen Positionen dagegen mehrfach, dass der autoritäre politische Staat nicht mit einem Schlag zu beseitigen sei, sondern erst verschwinden werde, wenn die sozial-ökonomischen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Engels schrieb in seinem Artikel „Von der Autorität“ 1872/73, dass alle Sozialisten einer Meinung darüber seien, „dass der politische Staat und mit ihm die politische Autorität im Gefolge der nächsten sozialen Revolution verschwinden werden, und das bedeutet, daß die öffentlichen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren und sich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden, die die wahren sozialen Interessen hüten“. Dem damaligen, von der Großen Französischen Revolution von 1789 geprägten Revolutionsverständnis entsprechend, notierte Engels mit Blick auf Autorität und Staat, eine Revolution sei gewiss „das autoritärste Ding, das es gibt“, und die siegreiche Partei müsse, „wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen“. Und Engels fragte: „Hätte die Pariser Kommune nur einen einzigen Tag Bestand gehabt, wenn sie sich gegenüber den Bourgeois nicht dieser Autorität des bewaffneten Volkes bedient hätte?“ (MEW, Bd. 18, S. 308)

Es ist dem Herausgeber Philippe Kellermann zu danken, Texte Bakunins, mit denen sich Karl Marx und Friedrich Engels auseinandergesetzt hatten, in zum Teil neuer Übersetzung wieder einem breiteren Publikum zugänglich gemacht zu haben. Der heutige Leser kann so die Texte von Bakunin einerseits und Marx und Engels andererseits vergleichend lesen und sich ein eigenes Bild von den damaligen Kontroversen machen.

 

Jochen Weichold