neues deutschland über ›Wir Bleiben Alle!‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen neues deutschland über ›Wir Bleiben Alle!‹

Ȇberblick mit Tiefgang

Stadtsoziologe erklärt Gentrifizierung

Sei es das Münchner Glockenbachviertel, St. Pauli in Hamburg oder Kreuzberg in Berlin. In den Auseinandersetzungen um steigende Mieten und Verdrängung der ärmeren Bevölkerungsschichten aus den Innenstädten hat in den letzten Jahren ein Wort Karriere gemacht: Gentrifizierung.
Was eigentlich unter Gentrifizierung zu verstehen ist, versucht in einem 80-seitigen Büchlein Andrej Holm allgemeinverständlich und doch zugleich auf der Höhe der internationalen wissenschaftlichen Diskussion zu klären. Der Text des 39-jährigen Berliner Soziologen mit dem Titel ›Wir bleiben Alle! – städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung‹ ist dieser Tage erschienen.
Für Holm beschreibt dieser Begriff sowohl den Austausch von statusniederen durch statushöhere Bewohner als auch die ›bauliche Aufwertung und ökonomische Inwertsetzung eines Stadtteils‹. Bei einer ganz so neutralen Beschreibung möchte es Holm jedoch nicht belassen und benennt diesen Prozess deutlich als ›Verdrängung‹ der ›Armen, Alten, Alleinerziehenden und Arbeitslosen‹ durch – um beim Buchstaben ›A‹ zu bleiben – Architekten, Anwälte und Akademiker. Beispielhaft schildert Holm diese Prozesse an einigen Gebieten von Berlin-Mitte und rund um den Kollwitzplatz, wo 15 Jahre nach dem Beginn der Sanierung nur noch 20 Prozent der ursprünglichen Bewohner leben. Und lag das dortige durchschnittliche Einkommen 1993 noch etwa bei 75 Prozent des Berliner Durchschnitts, ist es heute bei fast 140 Prozent angelangt. Diese ›Hartz-IV-freien Zonen‹ sind nun die Heimat des ›Bionade-Biedermeiers‹.

Für ein Recht auf Stadt

Ähnliche Prozesse, die auch mit den weltweiten ökonomischen Veränderungen der letzten 20 Jahre zusammenhängen, gibt es nicht nur in deutschen Städten. Weltweit treten immer mehr Städte zuein-ander in Konkurrenz und buhlen um die ›kreative Klasse‹. Dabei spielen auch viele arme Künstler, die mit ihren Galerien in vernachlässigte Viertel ziehen, oft eine Rolle als Raumpioniere. Holm unterscheidet zwischen den kulturellen Oberflächenphänomenen (als wäre die Ursache der Verdrängung im Prenzlauer Berg eine Invasion von ›Schwaben‹ und Künstlern) und den darunter liegenden ökonomischen Prozessen.
Doch wie viele Linke tut sich Holm mit den subjektiven Faktoren des von »innen« kommenden Wunsches nach Veränderung schwer. Zumindest in Kreuzberg ist eben der ›reiche Akademiker‹ oft mit dem ›armen Studenten‹ von vor zehn Jahren identisch. Auch sollte man mehr Gewicht darauf legen, wie der Wunsch nach sanierten Wohnungen mit mehr ›Licht, Platz und Sonne‹ sich ohne Mieterhöhungen umsetzen lässt. Zum Beispiel mit einer gesetzlichen Koppelung der Möglichkeiten zur Mieterhöhung an die Inflationsrate. Im Augenblick sind alle drei Jahre bis zu 20 Prozent Mietsteigerung erlaubt.
Dafür liegen Holm umso mehr die außerparlamentarischen Versuche des Widerstands gegen die Gentrifizierung am Herzen. Da er in den 90er Jahren in der Initiative ›Wir bleiben Alle!‹ rund um den Kollwitzplatz aktiv war, weiß er aber auch um deren relative Ohnmacht. Holm setzt als erfolgversprechende Strategie vor allem auf das Bündnis ›Recht auf Stadt‹ in Hamburg, insbesondere weil dort weit über die ›subkulturellen und parteipolitischen Protestspektren‹ eine wirkliche Basismobilisierung zu gelingen scheint.« – Christoph Villinger, nd, 16. Juni 2010

 

 

 

 

 

 

 

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