»Wer sich für das in Lateinamerika entwickelte kolonialismuskritische Denken interessiert, findet hier einen vorzüglichen Wegweiser durch Begrifflichkeiten, Problemstellungen und Debatten, von denen auf Deutsch bislang nur wenig zugänglich ist. Was in dieser Einführung sichtbar wird, geht weit hinaus über die großen Drei – Enrique Dussel, Walter Mignolo, Aníbal Quijano –, die bisher vom Verlag Turia + Kant in repräsentativen Werkausschnitten vorgestellt wurden. So unverzichtbar solche Ausgaben sind, so groß ist doch auch die damit verbundene Gefahr einer reduzierten Wahrnehmung: Was in Wirklichkeit eine von vielen Stimmen getragene und kontrovers, heterogen, von aktivistischen, nicht nur akademischen Protagonisten kollektiv vorangetriebene Debatte ist, präsentiert sich in solchen Ausgaben unvermeidlich als das Produkt eines individuellen Denkens, das noch dazu an ein bestimmtes Geschlecht gebunden scheint. Die akademische Gesellschaft kennt, wie die bürgerliche, nur den ›vereinzelten Einzelnen‹ (Marx), der seine Produkte unter seinem Namen in Umlauf bringt. Dagegen macht Verf. deutlich, dass ›die Auseinandersetzung um die Folgewirkungen des Kolonialismus und die Frage, was dagegen zu unternehmen sei‹ (21), einen ungleich komplexeren Zusammenhang bildet, der über sozio-ökonomische Analysen hinausgreifen und die ›Ebene der Kultur‹ (40) sowie ›kollektive Denkmuster‹ (45) einbeziehen muss. ›Kolonialität‹, wie der von Quijano ausgearbeitete Begriff lautet, präge nicht nur die ›Denk- und Wahrnehmungsweisen der Menschen in den ehemals kolonisierten Ländern‹, sondern erweise sich zugleich ›als das Fundament für die globale Arbeitsteilung bis in die Gegenwart hinein‹ (22) – ein Umstand, dem die bekannteren Protagonisten der im deutschsprachigen Raum geführten Diskussion über ›die Moderne‹ – Habermas, Nassehi, Rosa, Reckwitz – noch kaum Rechnung tragen. Und es geht ganz im Sinne der Kritischen Theorie nicht nur um Beschreibung, sondern um eingreifendes Handeln, Praxis, mit der die ‹bisher Unterdrückten und Ausgeschlossenen‹ (24) um Sichtbarkeit ringen. Verf. hatte die gute Idee, das Feld nicht entlang von Personen und deren Positionierungen zu erkunden, sondern entlang ›inhaltlicher Fragestellungen‹ (ebd.), womit die dogmatische Falle – wer gehört dazu, wer nicht? – vermieden werden soll. Sechs Fragen,
die sich auch in der Kapiteleinteilung spiegeln, werden unterschieden: 1) Wie entsteht die dekoloniale Theorie aus den Debatten innerhalb des Marxismus? 2) Wie steht es um ›die Moderne‹, wenn Kolonialität als deren ständige ›Schattenseite‹ (25) begriffen werden muss? 3) Was bedeutet die Betonung ›epistemischer Gewalt‹ (Spivak) und wie kann mit ihr gebrochen werden? 4) Wie werden die Geschlechterverhältnisse konzeptualisiert? 5) Welche der mit den Konzepten der Entkoppelung (delinking), der ›Bejahung des Anderen als anderer‹ (Dussel, 24) und des ›Grenzdenkens‹ (Gloria Anzaldúa) verbundenen Strategien ermöglicht ›die beste Dekolonisierungspraxis‹ (26)? 6) Wie steht es ums Verhältnis von Theorie und Praxis und welche Rolle spielen die sozialen Bewegungen? Verf. erinnert daran, dass Marx die Folgen kolonial-kapitalistischer Ausbeutung durchaus klar vor Augen standen, wenn er etwa von ›Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke‹ spricht (MEW 23, 779), doch gehe es hier weniger um Anklage als um die Feststellung eines letztlich »notwendigen Schritts auf dem Weg des Fortschritts‹ (32). Neben einer solchen ›modernisierungstheoretischen Position«, die die Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens in den Zustand eines ›stetigen ‘NochNicht’‹ verbannt (39), finde sich bei Marx allerdings auch eine die Dependenztheorie vorwegnehmende Auffassung, wonach die sich etablierende internationale Arbeitsteilung die kolonisierten Länder zur Abhängigkeit vom europäischen Zentrum verurteilt. (…) ›Antiimperialismus‹ wurde seit den 1930er-Jahren das Schlagwort der Linken in Lateinamerika – mit einschneidenden Rückwirkungen auf die vom fixen Blick aufs Industrieproletariat geprägte marxistische Theoriebildung. Schon Mariátegui hatte reklamiert, dass der Bezug auf die indigenen Lebensweisen im Zentrum des Sozialismus in Lateinamerika stehen müsse, nicht der ›Proletarier‹, der, mangels einer industriellen Infrastruktur, ein papierenes Leben auf den Seiten einer marxistischen Theorie führte, deren ›Übersetzung‹ in die lateinamerikanische Wirklichkeit noch ausstand. Mariátegui, auf den sich selbst diejenigen ›dekolonialen‹ Theoretiker positiv beziehen, die den Marxismus ansonsten in toto ablehnen wie Mignolo (37), habe mit der Sichtbarmachung der bäuerlichen und indigenen Bevölkerungsgruppen auch die Augen für die Rassifizierung des ›Indios‹ geöffnet, der als ›Minderwertiger‹ zum Gegenstand verschärfter Ausbeutung werde. Solche Überlegungen haben den Lernprozess der dekolonialen wie der marxistischen Theorie bedeutend angeregt und etwa Quijano dazu gebracht, ›die grundsätzliche Verwobenheit von Arbeit und ethnischer Zugehörigkeit‹ (43) als ›’spezifisches Machtmuster’ mit globalen Ausmaßen‹ (41) zu konzeptualisieren. Verf. hätte noch darauf hinweisen können, dass bei den ›großen Drei‹ Rosa Luxemburg so gut wie nicht vorkommt – Symptom eines Reduktionismus, bei dem allenfalls Marx bzw. sein peruanischer Nachfahre Mariátegui erwähnenswert ist, nicht aber die sehr genaue Kritik kolonialer Verhältnisse durch die polnisch-deutsche Revolutionärin. Die im Untertitel genannte ›Kritik‹ praktiziert Verf. im Sinne immanenter und damit solidarischer Kritik. Stets geht es darum, den aktivistischen ›Ruf ‘decolonize!’‹ (11) zu präzisieren, die Bedingungen seiner Umsetzbarkeit zu reflektieren und die mit ihm bisweilen einhergehenden ungeduldigen Abgrenzungsbedürfnisse zu relativieren. Indem er etwa die aus dem Feld der marxistischen Theorie kommenden Denkmittel mit den im engeren Sinne dekolonialen zusammenbringt, agiert er als jemand, der die Steine im Fluss zu finden versucht, die das Überqueren erlauben, statt dem Impuls der Abgrenzung nachzugeben. Sehr zu Recht wendet er sich etwa gegen Mignolos These, sowohl die Kritische Theorie wie die postkolonialen Studien seien ›in ihren transformatorischen Anliegen allein auf die Universitäten bezogen‹ (179), mithin ein rein ›akademisches Projekt‹ (182). Zwar werden die Kategorien der ›Moderne‹ und der ›Totalität‹, wie sie in der Kritischen Theorie ausgearbeitet werden, von Dussel oder Mignolo zu Recht kritisch gesehen, insofern sie ohne einen Blick auf die Opfer des Kolonialismus auskommen, aber der Kurzschluss, mit dem Dussel den ›Ausgebeuteten und Diskriminierten‹ (58) das alleinige Recht auf Kritik zuspricht, konterkariere die von der Kritischen Theorie aus guten Gründen vorgenommene Entkoppelung von ›legitimer Gesellschaftskritik und Ausgebeutetsein‹ (59). Die Theorie hätte kein eigenes Recht gegenüber der Praxis, wenn sie sich nicht im Gegensatz zu Ansichten befinden könnte, ›die beim Proletariat – in einer anderen Version des Textes spricht Horkheimer allgemeiner von ‘den Ausgebeuteten’ – gerade vorherrschten‹ (ebd.). Daher warnt Verf. vor der ›allzu emphatischen Aufladung des ›Volkes‹ als Akteur der Emanzipation‹ (55), was den ›paradoxen Effekt‹ haben könne, ›die realen Klassenverhältnisse aus dem Blick zu verlieren‹ (56) – eine Tendenz, die er bei Dussel oder Silvia Rivera Cusicanqui findet, die im Blick auf die Aymara Gemeinden in Bolivien behauptet, sie würden keine ›Herrscherschichten‹ kennen (188). So werden, auf der Suche nach einem ›dekolonialistischen Akteur‹ ohne Furcht und Tadel, dem ›Volk‹ Praxisformen zugeschrieben, die per se ›keine angepassten‹ sein können (28). Die Kritik am Essenzialismus kann umschlagen in neue Essenzialismen. Diese Dialektik ist zwar nicht neu, aber es ist immer ein Verdienst, sie in ihrer Wirklichkeit vorgeführt zu bekommen.(…)« – Peter Jehle, Das Argument, 342/2023