»Die Deutschprüfungstexte in der Berufsschule behandeln bevorzugt die Arbeitswelt, z.B. die Wichtigkeit von Teamarbeit oder von Pünktlichkeit. 2021 überraschte der Titel Die Hälfte aller Arbeit ist unnötig. Prüfungstext war ein Interview mit David Graeber über sein Buch Bullshit-Jobs. In der Schreibaufgabe bat man die Azubis, zu beschreiben, welche Tätigkeiten ihres erlernten Berufs sie sinnvoll empfinden und welche keinen Sinn haben. Auch ein begründetes Fazit sollte folgen: ›Ist Ihr Ausbildungsberuf ein ›bullshit-job‹?‹ Ich fand sowohl Aufgabenstellung wie auch Interview mutig, provokant, subversiv. So wurde ich auf David Graeber aufmerksam.
David Graeber (1961-2020) war Anthropologe/Ethnologe. Er arbeitete als Professor an der Yale University bis 2007, danach hatte er eine Professur in London. Er war ein bekannter politischer und sozialer Aktivist, eng verbunden mit der Bewegung Occupy Wall Street.
Der UNRAST-Verlag bietet mit dem vorliegenden Buch Graebers Texte von 2004 und 2007, in denen wir uns mit seinen frühen, die (westlich zentrierte) Welt auf den Kopf stellenden Thesen bekannt machen können.
Ein zentraler Begriff ist Anarchismus. Graeber wehrt die Assoziation Chaos und Gewalt, die wir gewöhnlicherweise mit ihm verbinden, ab und beschreibt Anarchismus als Herrschaftslosigkeit im Sinne von Konsensdemokratie. Als Ethnologe/Anthropologe verweist er auf unzählige historische und gegenwärtige Zusammenlebensformen von Menschen, die anarchistisch = konsensdemokratisch funktionier(t)en. Einen Staat eine Demokratie zu nennen, ist für Graeber ein Widerspruch, da sich der Staat mit Gesetzen und Gewalt durchsetzt. Aus seiner Sicht wurde der Begriff Demokratie seines Kerns entleert. In unseren Staatswesen sei nicht die athenische Agora, sondern der römische Circus der dem Volk von der Elite und den Mächtigen zugewiesene Ort. Graeber begrüßt und unterstützt die anarchische Organisationsform der Zapatistas in Mexiko (ihre sieben Handlungsprinzipien finden sich u. a. bei wikipedia) und der Bewegung Occupy Wall Street. Die Vision ist, dass sich die Ideen und Handlungsweisen der ›Anarchisten‹ über kleine Gruppen in die ganze Welt verbreiten werden und sich diese dadurch zu einem gerechten und gewaltfreien Ort verbessere.
Im Essay Einen Westen hat es nie gegeben demontiert Graeber bissig und treffsicher das Konzept eines ›Westens‹, der den Ländern, die Nicht-Westen sind, Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte bringe. Breitest gebildet und äußerst wortgewandt entfaltet er auch in diesem Text eine bunte vergangene und gegenwärtige Welt von wahrhaft demokratischen und pluralistischen Gemeinschaften (z.B. das Zusammenleben auf Piratenschiffen).
Graeber schreibt nicht im wissenschaftlichen Jargon. Im englischen Original wird die Sprache zum Sog. Dies versucht die deutsche Übersetzung nachzuahmen. Aber hier scheint manches langatmig, was im Original nach mitreißender freier Rede klingt. Die Originaltexte sind im Internet frei zugänglich. Graebers Buch ist Denkanstoß pur. Es gibt Kraft, daran zu glauben, dass anderes als Neoliberalismus möglich ist. Haben Sie z. B. schon mal von ›Geschenkökonomie‹ gehört? Schauen Sie ins Buch (S. 37/38!), es lohnt sich!« – Susanne Frank, Deutsche Lehrer im Ausland, März 2023