»Bei dem Buch handelt es sich um eine deutsch-schweizerische Koproduktion mit dem Ziel, ein vergessenes, verdrängtes Kapitel der deutschsprachigen Arbeiter/innenbewegung aufzuarbeiten. Erschienen ist es in einem Alternativverlag, der bereits einige interessante Veröffentlichungen zu jüdisch-sozialistischer Geschichte sowie zu Antisemitismus verlegt hat.
Gezeichnet durch das Gettoelend in den Schtetln und bedroht durch oft staatlich initiierte Pogrome, war insbesondere die jüdische Arbeiter/innenbewegung Osteuropas von Gerechtigkeitssuche und universalem Freiheitsdrang erfüllt. Dabei transformierten viele junge jüdische Akteure und Akteurinnen ihre jüdische Religiosität in eine sozialrevolutionäre Utopie und Praxis; mit der Beseitigung von Herrschaft und Zwang sollte zugleich der Antisemitismus überwunden werden. Hier standen häufig nicht Marx und Lenin, sondern konsequent antitotalitäre Libertäre wie Kropotkin, Tolstoj und Gustav Landauer Pate. Über die Entstehungsbedingungen dieses historisch einzigartigen säkularisierten Messianismus und die vergangenen jüdischen Lebenswelten im ost- und mitteleuropäischen Raum informiert eine instruktive Einleitung, der intensiv recherchierte und engagierte Porträts folgen.
So versuchte der im ostgalizischen Schtetl Kuty jüdisch aufgewachsene und als Flüchtling durch halb Europa gehetzte Anarchist, Pazifist und Spanienkämpfer Isak Aufseher (1905–1977) gegen die Zerstörungen des Nationalsozialismus ›’luftige’ Welten von freien Menschen zu setzen‹ (S. 59). An seinem libertären Gegenentwurf zur singulären Destruktivität der Shoah hielt auch der in das gänzliche andere Milieu des Berliner jüdischen Großbürgertums hinein geborene ›Schriftsteller, Abenteurer, Kunstvermittler, Maler, Bildhauer, Kneipier und Geschichtenerzähler‹ (S. 92) Jack Bilbo alias Hugo Baruch (1907–1967) fest. Infolge der Verwüstungen des Ersten Weltkriegs wählte der dem Wiener Großbürgertum entstammende, erfolgreiche Librettist Robert Bodanzky (1879–1923) die unsichere Existenz eines antimilitaristischen und anarchistischen Freiheitsdichters. Dem im rheinischen Neuwied geborenen Rabbinersohn, Schriftsteller und libertären Spanienkämpfer Carl Einstein (1885–1940) wird eine komplexere Beziehung zum Judentum nachgewiesen als bisher erforscht. Aus dem galizischen Schtetl Gliniany verschlug es die Anarchistin und ›Luftfrau‹ Cilla Itschner-Stamm (1887–1957) in die polnisch-russische Grenzstadt Brody und später in die osteuropäisch-jüdische Exilhochburg Zürich, wo sie sich trotz ständiger finanzieller Not vielseitig engagierte, bis ihre zerrissene Kindheit sie einholte, weshalb sie in einer psychiatrischen Klinik starb. Ihr Vermächtnis, ›nie zu rasten und zu ruhen, solange es Menschen gibt, die leiden‹ (S. 198), entsprach auch dem Anliegen der im heute ukrainischen Slotopol jüdisch-orthodox erzogenen, mit erst 17 Jahren in das Londoner East End emigrierten Milly Witkop-Rocker (1877–1955), die zu den ›bedeutendsten Frauen innerhalb der jüdischen und anarchistischen ArbeiterInnenbewegung‹ zählt (S. 249).
In seinem Vorwort schreibt der politisch engagierte jüdische Zürcher Psychiater und Publizist Emanuel Hurwitz zutreffend, dass das Hauptverdienst der beiden Autoren ›zweifellos‹ darin besteht, ›eine Reihe von Lebensgeschichten in ihrem geographischen, gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt emotionalen Hintergrund der Vergessenheit entrissen zu haben. Es werden Menschen portraitiert, die trotz verschiedener Herkunft und verschiedener ‘Anarchismen’, die sie vertraten, ihr Leben mit einer herausragenden Hingabe und Intensität gelebt haben. Wo immer sie sich aufhielten, ihr ungeteiltes Engagement galt einer menschlicheren und gerechteren Welt‹ (S. 9). Zugleich wurde ein wichtiger Beitrag über den nicht- oder gar antimarxistischen Teil der Arbeiter/innenbewegung wie auch zur jüdischen Frauengeschichte vorgelegt. Der im Buch fehlende umfangreiche Personenindex ist auf der Homepage des Verlags abrufbar.« – Dr. Birgit Seemann, TRIBÜNE. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Heft 182, 2. Quartal 2007