‘Mitten in der Gesellschaft verwurzelt
Der ursprünglich positiv besetzte Begriff „Neoliberalismus“ ist spätestens seit dem Ende des letzten Jahrhunderts zu einem Schimpfwort verkommen. Und obschon das Ende dieser Denkrichtung nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 besiegelt schien, ist der Neoliberalismus nicht untergegangen. Warum, versucht ein neues Buch zu erklären.
Geschrieben hat es der ostbelgische Politikwissenschaftler und Ökonom Norbert Nicoll. „Neoliberalismus. Ungleichheit als Programm“, lautet der Titel der Neuerscheinung, die im Unrast-Verlag in Münster erschienen ist. „Ich wollte das Rad nicht neu erfinden“, sagt der Autor. Vielmehr liefert sein Buch einen groben, aber dennoch fundierten Überblick, wobei einige Aspekte schwerpunktmäßig beleuchtet werden. Außerdem stellt es einen Bezug zur Aktualität her und lässt zahlreiche Rückschlüsse auf die derzeitige Krise zu. Im Mittelpunkt steht aber die Frage nach der angeblichen Alternativlosigkeit des Neoliberalismus. Denn während das kapitalistische System immer häufiger infrage gestellt wird, gehen Sozialkürzungen und Privatisierungen weiter. „Der Neoliberalismus ist standfest und erstaunlich gut in der Mitte der Gesellschaft verwurzelt“, hält der Autor fest. Die europäischen Entscheidungsträger seien in einer neoliberalen Gedankenwelt gefangen, wonach Sparen immer gut sei, schreibt Norbert Nicoll. Doch gerade die verschärfte Sparpolitik wirke krisenverschärfend: „Der Neoliberalismus droht Europa gegen die Wand zu fahren. Nachhaltig und irreparabel. Die Beschäftigung mit dem Neoliberalismus ist also nicht nur nützlich, sie ist geradezu notwendig, um Schlimmeres zu verhüten und Gegenstrategien entwickeln zu können.“
Doch bevor er Alternativen aufzeigt, führt der Eupener den Leser in die neoliberale Gedankenwelt ein. Schnell wird deutlich, dass eine eindeutige Definition unmöglich erscheint. Die Ideen des Neoliberalismus basieren in erster Linie auf den negativen Erfahrungen mit dem ungezügelten Liberalismus des Laissez-faire im 19.Jahrhundert, als die öffentliche Hand die Wirtschaft komplett dem freien Spiel der Marktkräfte überließ. Doch erst nach Ausbruch der Krise in den dreißiger Jahren mit großer Depression und Massenarbeitslosigkeit tauchte der Neoliberalismus erstmals 1938 als eigenständiger Begriff auf – bei einer Konferenz zur Erneuerung liberaler Ideen in Paris. Einer der Gründungsväter war der Österreicher Friedrich August von Hayek (1899-1992), dessen Theorien von Norbert Nicoll geradezu seziert werden. In einem weiteren Kapitel beschreibt der Autor die Rahmenbedingungen für den „neoliberalen Rollback“ seit Mitte der siebziger Jahre. Bis dahin dominierten keynesianisch geprägte Vorstellungen, wonach der Staat wichtige Aufgaben bei der Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zukommen. Zur Strategie zur Durchsetzung des neoliberalen Programms gehöre auch die TINA-Strategie: Mit dem Slogan „there is no alternative“ stempelte die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher die gegenwärtige Welt zur besten aller möglichen Welten und das neoliberale Weltbild zum einzig möglichen. Auch dem „neoliberalen Europa“ widmet der Autor ein eigenes Kapitel. Hier liest sich sein Buch nicht nur wie eine Abrechnung, sondern auch wie eine Kampfschrift für eine andere EU, in der momentan die Demokratie „deformiert“ werde. „Alle Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach einem Leben in Sicherheit und Geborgenheit, ohne Ängste vor Arbeitslosigkeit, Krankheit, Verbrechen und Krieg. Der Neoliberalismus verhöhnt diese Bedürfnisse als Drang zur Bequemlichkeit und als Sehnsucht nach einem kuscheligen Sozialstaatsparadies“, hält Nicoll fest. Das größte Kapital des Neoliberalismus seien untätige Menschen, die glaubten, nichts ändern zu können.’
Christian Schmitz, Grenz-Echo vom 17.8.2013