Rezension, off limits
von Conni Grenz
Bilder von und Meinungen über die „Fremden“, vor allem in Gestalt von „Ausländern“, sind heute in allen Medien und in vielerlei Alltagsgesprächen zu finden. Aber nur wenige stellen sich die scheinbar banale Frage: Wie wird man eigentlich fremd?
Fremdenbilder haben sich im Laufe der Zeit deutlich gewandelt. Seit den bürgerlichen Revolutionen ist fremd, wer nicht zu Staat und Nation gehört. Die AutorInnen des vor kurzem erschienenen Sammelbandes betonen in ihrer Einleitung: „’Fremder’ wird man (also) nicht nur durch die objektiven Zwänge nationaler Staaten und nationaler Ökonomien. Fremd wird man auch durch die Art und Weise, wie sich diese Grenzziehungen in die Individuen und ihr Bewusstsein hinein verlängern. Fremd wird man auch durch ideologische, psychologische und diskursive Mechanismen“ (S. 7) Mit diesen Mechanismen haben sich auf verschiedenen Ebenen TheoretikerInnen der Kritischen Theorie, der Psychoanalyse und des Poststrukturalismus beschäftigt. Welche Beiträge können diese Theorien zur Erklärung des modernen Differenz-Rassismus, des Multikulturalismus und neuer Formen der Abschottung liefern? Welche Berührungspunkte gibt es zu den Diskursen über Geschlechts-Identitäten? Welche Bedeutung haben solche Ansätze für praktischen Antirasssismus?
Der Sammelband „Wie wird man fremd?“ dokumentiert eine Vortragsreihe der jour fixe initiative Berlin mit Beiträgen von WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Städten und Ländern zu diesen Fragen und knüpft an die vorhergehenden Reihen über „Kritische Theorie und Poststrukturalismus“ (Argument) und über „Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft“ (Unrast) an.
Europas Grenzen und die nationale Ordnung der Welt
Helmut Dietrich von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration zeigt in seinem Beitrag „Der Raum des humanitären Engagements“, wie die Flüchtlingspolitik immer mehr zum „humanitären Arm“ der großen Mächte und ihrer Territorialstrategien geworden ist. Dabei untersucht er das Verhältnis von systematischer Rechtsverweigerung gegenüber Flüchtlingen und den neuen staatlich-gesellschaftlichen Bündnissen im Zeichen der Menschenrechte. Er konkretisiert seine Thesen an Erfahrungen an der östlichen Schengener Außengrenze und Konzepten einer neuen europäischen Raumordnung mit einer entsprechenden Flüchtlingspolitik, die insbesondere seit dem Kosovo-Krieg deutlich werden.
Klaus Holz fragt in „Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt“ nach dem Unterschied zwischen Antisemitismus und Xenophobie. Er rückt den Nationalismus in den Mittelpunkt der Überlegungen und schlussfolgert: Während der ‚Fremde’ eine andere nationale Identität verkörpert, personifiziert der ‚Jude’ die nationale Nicht-Identität.
Faszinierende oder unheimliche ‚Fremde’?
Stephan Gregory versucht in „Flüssige Subjekte – Romantische Revolte und ökonomische Flexibilisierung“, den aktuellen Flexibilisierungsdiskurs der ‚Unternehmensphilosophien’ im Lichte eines 200 Jahre älteren, literarischen Diskurses zu lesen: der romantischen Rede vom ‚Fließen’, ‚Strömen’ und ‚Verschmelzen’. Nach außen gewandt und auf Fremde projiziert, wird diese Vorstellung zu einer ebenso faszinierenden wie beunruhigenden Wahrnehmung, sofern die fernen Fremden den Einheimischen ‚zu nahe’ kommen.
Die dargestellten Zusammenhänge zwischen ökonomischer Entwicklung und Subjekttheorien zu Beginn der Industrialisierung und in der heutigen postfordistischen Neuordnung der Produktions- und Klassenverhältnisse sowie die jeweiligen Bezüge zum ‚Fremden’ bieten viel Stoff zur Duskussion. Zur aktuellen „Zuwanderungsdebatte“ passt die Feststellung Gregorys, dass im Gegensatz zur „Ambivalenz von Faszination und Erschrecken“ (S. 75) gegenüber dem ‚Fremden’ in der Romantik der Diskurs der heutigen Eliten nur noch das ‚interessante Fremde’ kennen will, das zu kultureller und wirtschaftlicher Bereicherung beiträgt. „Wie das Fremde konstruiert wird: als Bereicherung oder als Bedrohung, scheint heute wesentlich durch die Teilhabe oder Nichtteilhabe an den Wohlstands- und Glücksversprechungen der neuen Subjektivitäts- und Arbeitsordnung bestimmt zu werden. Einer gut eingespielten Arbeitsteilung folgend, bleibt es den Deklassierten überlassen, Rassisten zu sein (eine Aufgabe, die sie willig erfüllen), während die Organisatoren der Ungleichheit sich ihrer Toleranz und Weltoffenheit rühmen können“ (S. 76). Gregory übersieht meines Erachtens dabei, dass sehr wohl auch die heutigen Eliten neben dem Bild des „nützlichen Ausländers“ das des „gefährlichen Fremden“, z.B. des „organisierten Kriminellen“, schaffen und verbreiten.
Historisch und aktuell interessant sind auch die Darstellungen von Elfriede Müller zur Frage „Nomadentum statt Identität? Eine Denkfigur und ihr Verhältnis zum Nationalismus“. Welche Gruppen von Menschen aus dem Vernunftbegriff der Aufklärung und vom eurozentristischen Anti-Nationalismus der Arbeiterbewegung ausgeschlossen wurden und welche Relevanz deren Fremdenbilder noch heute haben, wird von Müller an Beispielen veranschaulicht, bevor sie zu den Unterschieden zwischen universalistischem und heute vorherrschendem differentialistischem Rassismus kommt.
Auch die Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Wanderungsbewegungen hat bis heute Aktualität: „Geordnete Bewegungen, die eigentlich an der hegemonialen Sesshaftigkeit orientiert sind, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz umziehen, werden gefördert. Während die andere nomadische, nicht zielstrebige, nur weiter- bzw. wegwollende Bewegung suspekt geblieben ist und verhindert werden soll“ (S. 96).
Das Nomadische kann deshalb sowohl „scheinbar kritische Affirmation der spätkapitalistischen Subjektivität“ bedeuten als auch zur Infragestellung fester Identitätskonzepte und zu Wegen aus der spätkapitalistischen Realität führen.
Am Beispiel jüdischer Intellektueller im 20.Jahrhundert untersucht Enzo Traverso das „Exil als Hemeneutik der Nicht-Identität“. Es führe zu einem Erkenntnisprivileg um den Preis radikaler Entwurzelung, und es ist kein Zufall, dass viele dieser ‚Fremden’ nicht als nationale Gruppen, sondern als Weltbürger auf die Ereignisse ihrer Zeit reagierten.
Analyseinstrumente für den Neo-Rassismus
„Horkheimers und Adornos ‚Dialektik der Aufklärung’ oder Foucaults ‚Biomacht’?“ Der so überschriebene Beitrag von Angelika Magiros gibt einen guten Überblick über die genannten Theorieansätze und stellt dann ihre Grenzen bezüglich der Analyse des postmodernen Rassismus dar. Bei dem neuen Rassismus handele es sich – in Anlehnung an Balibars Analyse – „erst in zweiter Linie um einen Biolgismus“ (S. 12). „Wenn im neo-rassistischen Diskurs ‚Kultur’ gesagt wird, dann – so meine These – ist damit wirklich, strukturell und in der Tiefe der Begrifflichkeit etwas anderes gemeint als mit der ‚Rasse’ der alten biologistischen Rassisten“ (S. 130). Was „Kultur“ konkret ist, beantworten die neuen Rassisten nicht. Stattdessen schreibt z.B. der Neu-Rechte Marcus Bauer: „Unterscheiden zu können zwischen ‚Wir’ und ‚Die’, das macht ‚kulturelle Identität’ aus“ (S. 130). Hier geht es also um Konstruktionen und Relationen, und für deren Demontage hält Magiros ein postmodernes Werkzeug wie die Theorie von Foucalt nicht für das geeignetste. Aber mit dem Rückgriff auf Horkheimer und Adorno könne man „Foucaults Projekte in die Analyse der Postmoderne hinüberretten – nicht nur seine provokante Methode, den Rassismus theoretisch mitten ins Herz der jeweils aktuellen Gesellschaftsformation zu pflanzen, sondern auch seine Warnung vor Immanenzen und vollen, großbuchstabierten Identitäten aller Art“ (S. 146).
Ebenfalls auf die Aufklärung und auf Konstruiertes, nämlich einen Automaten, den unbesiegbaren Schachtürken, bezieht sich Hito Steyerls Beitrag „Haunting Humanism – Ethnizität, Humanitarismus, Neoimperialismus“. So wie es sich bei jenem Humanoiden um plumpen Schwindel handelte, hat sich die heutige globale Bourgeoisie „bloß hinter einer humanoiden Hülle aus abstraktem Globalismus, genetisch gewendeter Dekonstruktion und Nato-Bombern verschanzt“ (S. 160) Ihr Rassismus ist durch posthumane Flexibilisierung geprägt, während für abstiegsbedrohte Kleinbürger herkömmliche Rassimen, die sich gegen kosmopolitische Spezialisten ohne nationale Bindung richten, nach wie vor maßgeblich sind. Auf der Ebene internationaler Politik zeichnen „mächtigere Staaten gern ein heterogenes, antiautoritäres, flexibles und bündnisfähiges Bild von sich, während die Pariastaaten als homogene ethnische Horden imaginiert werden“ (S. 165).
Steyerls Schlussfolgerungen sind zu unterstützen: „Rassismus und Neoimperialismus sind keineswegs der Ausnahmezustand der Neuen Weltordnung, sondern ihre Spielregeln. Dagegen zu setzen ist die Konstitution der Unterdrückten als politisches Subjekt anstatt als humanoid-humanitäres Objekt, das nur scheinbar ins Spiel des Politischen integriert ist“ (S. 168).
Hybride (Geschlechts-)Identitäten, künstlerische Versuche und Analysen
Der Beitrag von Sylvia Pritsch unter dem Titel „Auf der Suche nach dem Third Space: hybride (Geschlechts-)Identitäten jenseits von Fremdem und Eigenem?“ befragt feministische und postkoloniale Kulturkritiken danach, wie sie Widersprüche in postmodernen Machtverhältnissen zu nutzen suchen, um Identitätsvorstellungen aufzubrechen und zu verschieben. Ihre Kritik an jeglicher Identitätspolitik, auch von Unterdrückten, resultiert aus der Einsicht, „dass der Ort der marginalisierten Anderen nicht als Träger des politischen Widerstands proklamiert werden kann, da ein solcher Ort des authentischen Sprechens jenseits des dominanten Diskurses oder auch bloß der offensiven Verweigerung nicht auszumachen ist – weder für Subalterne in (neo-)kolonialisierten Ländern noch für Frauen“ (S. 175). Das Konzept des Hybriden, das heißt uneindeutiger und „unreiner“ Vermischungen, das sich als Alternative anbietet, kann aber auch zu einer Form des Multikulturalismus führen, der bei einer bloßen Addition und damit „Konsumierbarkeit“ von Differenzen stehen bleibt. Aus ihrer Analyse ergibt sich die besondere Dringlichkeit der Frage, wie sich kulturelle Differenzen und die Geschlechterdifferenz überlagern und noch dort Konstrukte des Anderen stabilisieren, wo diese unter dem Zeichen des Hybriden aufgelöst werden sollen.
Ela Wünsch beschäftigt sich in ihrem Beitrag „Differenzen testen“ am Beispiel von Portraitphotographien von Robert Mapplethorpe mit politischen und künstlerischen Praktiken, mit denen ‚weiße’ Akteure versuchen, „nicht rassistisch zu sein“. Ihre Analyse der Konstituierung ethnischer und sexueller Kategorien mit Hilfe psychoanalytischer Ansätze ist allerdings nicht ganz einfach nachzuvollziehen.
Leichter zu lesen und anregend für weitere Untersuchungen ist Michael T. Koltans Analyse von „Exotica“, das heißt hier: Beispielen von Schallplatten der fünfziger Jahre bis zur Weltmusik von heute, die „exotische“ Elemente auf den Ebenen von Text, Interpret, Rhythmus, Instrument und Skala enthalten. Sein Ergebnis: mit dem Exotischen ist es gar nicht so weit her – man peppt nur Altvertrautes ein wenig auf, „damit es aufregend-fremdartig erscheint, ohne sich jedoch der Gefahr auszusetzen, sich tatsächlich mit etwas Fremdem konfrontiert zu sehen“ (S. 237). Ein solcher Exotismus ist mit rassistischer Ausgrenzung des Anderen sehr wohl zu vereinbaren. Mit psychoanalytischen und kulturkritischen Kategorien kommt Koltan zu dem Schluss: „Im exotischen Phantasma konstruieren wir das unmögliche Genießen ohne Exzess, von dem wir glauben wollen, dass es möglich wäre, wenn uns die Fremden nicht unser Genießen gestohlen hätten. Hier identifizieren wir uns mit einem Fremden, das keinerlei traumatisierende Qualität besitzt, das nicht einmal fremd ist, sondern nur unsere eigenen Wunschbilder reproduziert“ (S. 253).
Ich gebe zu: Manche der hier zusammengefassten Texte sind schwer verdaulich, und ich habe beim Lesen nicht bis zum Ende durchgehalten. Aber insgesamt ist der Sammelband eine anregende Lektüre, auch und gerade für antirassistische AktivistInnen, die sich zwischen den Terminen ein bisschen Zeit zur Reflexion nehmen wollen.