Jos Schnurer über ›Mythen, Masken und Subjekte‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen Jos Schnurer über ›Mythen, Masken und Subjekte‹

»Weiß ist eine Gelegenheitsfarbe – Schwarz die Farbe aller Tage,
diese provozierend-vergleichende Charakterisierung des neuerlichen Werbegags – ›Ich sehe schwarz – ich weiß‹ – ist ja die Kennzeichnung der Problematik aus der Befreiungs- und Identitätsphase der kolonialen, afrikanischen Völker, wie sie sich in den Kampfparolen der Négritude von Aimé Césaire und Léopold Sédar Senghor dargestellt haben. Es wäre töricht zu leugnen, dass es eine schwarze Rasse gibt, so argumentiert Senghor in seinem Buch ›Négritude und Humanismus‹ (1964/67). Aber Rasse im Sinne der ›schwarzen Philosophie‹ ist keine Wesenheit, keine Substanz: ›Sie ist die Tochter der Geographie und der Geschichte‹. In diesem trotzigen Aufbegehren gegen den Jahrhunderte langen Rassismus der Weißen, der ja nicht erst mit dem europäischen Imperialismus und Kolonialismus begann, auch nicht erst mit dem Sklavenhandel; er war ›herrisch‹ (Leo Frobenius) bestimmt seit Jahrtausenden. Dabei war die Blickrichtung eindeutig: ›Europa blickt nach Afrika‹ (E. Barth von Wehrenalp, 1939), weil Afrika die Rohstoffquelle Europas ist, mit dem herrischen, durchaus ›wohlmeinenden‹ Blick des deutschen Missionars und Afrikaforschers Diedrich Westermann (1875 – 1956): ›Das Geschick des Afrikaners ist für alle absehbare Zeit mit dem des Europäers aufs engste verbunden … er ist der Schüler und Arbeitnehmer, wir die Lehrer und Arbeitgeber, aber auch: wir sind die Herren und er der Untergebene‹. Mit ›Afrika antwortet Europa‹ (Ruprecht Paqué, 1967) vollzog sich ein Blickwechsel, der mit Okot p`Biteks selbstbewusster Darstellung von ›Afrikas eigenen Gesellschaftsproblemen‹ (1982) einen eigenen Kontrapunkt setzte. Die Auswirkungen dieser politischen Betrachtungsweise gipfelt vorerst in den Aufrufen der UNESCO zum interkulturellen Dialog, dem Bericht der Süd-Kommission von der ›Herausforderung des Südens‹ und in dem vielleicht allzu euphorisch und oberflächlich präsentierten Bemühen, mit der Afrikahalle bei der EXPO 2000 in Hannover die ›Gesichter eines Kontinents‹ darzustellen und der Welt einen ›Kontinent im Aufbruch‹ zu zeigen.

Das hier vorzustellende Buch mit dem etwas holprig aus der US-amerikanischen Forschungsrichtung der Critical Whitness Studies übertragenen Begrifflichkeit einer ›kritischen Weißseinsforschung‹ setzt sich entschieden ab von der traditionellen, auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung um Rassismus, um Weiß- und Schwarzsein als ein systemisches und gesellschaftliches Phänomen. Die 45 Autorinnen und Autoren verschiedener ethnischer Herkunft wollen dazu beitragen, dass im deutschen Wissenschafts- und Gesellschaftsdiskurs eine ›postkoloniale Perspektiverweiterung (statt findet), die das weiße Subjekt zusätzlich zum Schwarzen Subjekt ins Zentrum des Interesses rückt‹. Die Herausgeberinnen nennen bewusst ihre Namen nach ihrer hautfarbigen Herkunft: Schwarz vor Weiß. Die Erziehungswissenschaftlerin und Sozialpädagogin, in Kenia 1973 geborene Maureen Maisha Eggers, ist Lehrbeauftragte an der Humboldt-Universität Berlin und Mitarbeiterin beim Netzwerk ADEFRA – Schwarze Frauen in Deutschland e.V. Die in Lissabon geborene Grada Kilomba, Psychologin in São Tomé e Príncipe, hat ebenfalls an der Humboldt-Universität studiert und arbeitet heute mit angolanischen Flüchtlingen. Peggy Piesche, 1968 in Arnstadt geboren, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt ›Black European Studies‹ an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, gehört ebenfalls der ADEFRA an. Und schließlich die 1967 in Magdeburg geborene Afrikawissenschaftlerin Susan Arndt, die bereits mit zahlreichen Veröffentlichungen, wie ›AfrikaBilder – Studien zu Rassismus in Deutschland‹ (2001) und ›Afrika und die deutsche Sprache‹ (2004), auf sich aufmerksam gemacht hat.
Nachdem die Herausgeberinnen den Sammelband mit einem ›vierstimmigen Prolog‹ einleiten, mit dem sie sowohl einen Anschlusspunkt zu den Critical Whiteness Studies in den USA aufnehmen und das traditionelle weiße Selbstverständnis mit dem Zeigefinger der ›Farbenblindheit‹ in Frage stellen, als auch auf die Relevanz der Kategorien Weißsein und ›Rasse‹ für die deutsche Gesellschaft und Wissenschaft hinweisen. Hegemoniale und marginale Betrachtungsweisen und Positionen im interkulturellen und interdisziplinären Diskurs führen, so die Herausgeberinnen, zu einem notwendigen Perspektivenwechsel, dass Weißsein ein Mythos ist. Um ihn bewusst zu machen, bedeutet das zu aller erst, ›die eigene Subjektposition überhaupt einmal wahrzunehmen, zu thematisieren, seine Mythen zu dekonstruieren und Masken zur Disposition zu stellen… Weißsein… zu befreien aus seiner unmarkierten Normalität‹ (Susan Arndt).

Die Gliederung des Buches in drei Kapitel ist gleichzeitig Programm:
Im ersten Teil ›Der weiße Fleck und das Subjekt. Schwarze Perspektiven zu Weißsein in Deutschland‹ kommen Autorinnen und Autoren aus ihrer Perspektive als ›People of Color‹ mit ihren je spezifischen kulturellen und interkulturellen Erfahrungs- und Studienhintergründen zu Wort; z. B. in einer historisch-kulturellen Auseinandersetzung mit Kants Rassismusbegriff (Peggy Piesche); ein kritischer Blick zum ›Weißsein der Philosophie‹ (Arnold Farr); ein hochinteressanter und konfrontativer Angriff auf gewisse Entwicklungen in der (weißen) Emanzipationsszene (Alice Schwarzer), rassistisches Wissen als einen weißen Konsens, etwa bei der Betrachtung und Auseinandersetzung mit Islamismen, zu betrachten (Maureen Maisha Eggers); Paul Mecheril beklagt den doppelten Mangel, der das Schwarze Subjekt hervor bringt; Grada Kilomba diskutiert in ihrem englischsprachigen Beitrag ›No Mask‹ als ›mask of speechlessness‹; ebenfalls in Englisch stellt die Präsidentin der Association of African Women Scholars, Obiama Nnaemeka die historischen und aktuellen Betrachtungs- und Umgangsweisen der Europäer mit ›black bodies‹, dem ›Otherness‹ und ›anomaly, dar; der in Berlin als Politikwissenschaftler tätige Kein Nghi Ha reflektiert die Quellenlage zur deutschen Kolonialgeschichte und macht auf die ›ungeklärte Aktualität deutscher Kolonialkultur‹ aufmerksam; Nicole Lauré Al-Samarai zeigt an ausgewählten Beispielen zum ›Schwarzen deutschen Wort‹ und zum Kunstschaffen von Schwarzen Deutschen Positionsbestimmungen und Versuche zur ›figuralen Selbsterneuerung‹ auf; Hito Steyerl nähert sich mit seiner Auseinandersetzung dem Problem von ›white cube‹ und ›black box‹, indem er über die Farbmetaphysik des Kunstbegriffs nachdenkt; die in London arbeitende Schriftstellerin Amy Evans hat die wahre Geschichte einer jungen Senegalesin, die 2001 in Deutschland von einen Polizisten erschossen wurde, als Theaterstück geschrieben, das im Mai 2004 im Finborough Theatre of London uraufgeführt und als Zusammenfassung erstmals in Deutschland publiziert wird; als einen ›Betroffenheitsbericht‹ formuliert Jinthana Haritaworn das Problem, dass in den Zeiten der ›honour-crimes‹ – Diskussion ›Anti-Rassismus, Feminismus, sexuelle Befreiung und andere progressive Diskurse im derzeitigen Multikulturalismus gegeneinander ausgespielt werden‹. Mit der Frage ›Wo sind schwarze Juristen in Deutschland?‹ vergleicht Iyiola Solanke die Rechtssysteme in Deutschland und England und kommt zu dem Ergebnis von der juristischen ›Weißheit‹ in unserem Lande; die Diplompflegewirtin Regina M. Banda Stein, sambisch-deutscher Herkunft, stellt in einem bemerkenswerten authentischen Bericht die Frage nach den Erfahrungen, Diskriminierungen und Chancen von schwarzen deutschen Krankenschwestern; die 1969 in Casablanca geborene und im Schwarzwald aufgewachsene Schauspielerin Nisma Cherrat erzählt mit bitterer Ironie, welche Beweggründe an deutschen Theatern Regisseure dazu bringen, nach dunkelhäutigen Schauspielerinnen und Schauspielern zu suchen. Dabei wird ihr (wieder einmal) bewusst, ›welche Überzeugungsarbeit wir im Vorfeld schon zu leisten haben, bevor die eigentliche Arbeit beginnt‹; der Leiter des Internationalen Atelier Theaters der Universität Bayreuth, der aus Togo stammende Sénouvo Agbota Zinsou stellt mit der Metapher – ›Wenn eine Gesellschaft die Anwesenheit von Blinden toleriert, beweist sie…, dass die ganze Gesellschaft aus Blinden besteht‹ – seine eigenen Fremdheitserfahrungen zur Diskussion; der 1978 in Berlin geborene Mutlu Ergün, Schriftsteller, Journalist und Sozialarbeiter, steuert zum Buch Auszüge aus einem in Arbeit befindlichen Prosatext ›Hayal‹ bei: ›Die Wüste ist mein Freund‹, eine Metapher? Aretha Schwarzbach-Apithy reflektiert in aufrüttelnder Form ihre Erfahrungen mit ›Interkulturalität und Anti-Rassistischen Weis(s)heiten an Berliner Universitäten‹. Ihre Anregung, im Studium ›mehr als nur weiße (in der Regel hegemoninale) Texte‹ zu bearbeiten, steht im Raum; der Mitarbeiter der Flüchtlingsinitiative Brandenburg, der Zairer Gbiango Junior, bringt, in der Form eines Manifests, eine neokoloniale Anklage, zu Gehör; die Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Aischa Ahmed promoviert zur Zeit über das spannende Thema ›Arabische Präsenz in Deutschland von 1871 bis in die Gegenwart‹. Aus ihrer Arbeit stellt sie zwei Interviews zum Thema ›Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz‹ zur Verfügung; Joshua Kwesi Aikins vom SFB (Schwarzes Fernsehen Berlin) bringt in seiner ›Anklageschrift‹ über ›schwarze Musik / Kulturen in Deutschlands weißem Mainstream‹ Reggae, Rastafari, Rightousness und Realitäten in die Diskussion.

Im zweiten Teil, den die Herausgeberinnen ›Übergänge‹ titeln, werden Beiträge vorgestellt, die von jeweils zwei AutorInnen mit schwarzer und weißer Perspektive geschrieben sind: Timo Wandert und Randolph Ochsmann setzen sich mit ›Whiteness, Rassismus und `Race`in der Psychologie‹ auseinander; María Do Mar Castro Verela und Nikita Dhawan arbeiten in ihrem englischen Text zum Thema ›Desiring, Whiteness in Postcolonialism‹.

Der dritte Teil schließlich ist einer kritischen Reflexion zu weißen Mythen gewidmet: Susan Arndt setzt sich mit der durchaus alltäglichen Wahrnehmung und Einstellung von (aufgeklärten) weißen Intellektuellen auseinander: ›Ich bin nicht so eine Weiße…‹. Das Weißsein zu reflektieren, in all seinen historischen, kulturellen und Alltagserfahrungen und zu erkennen, dass ›sich Weißsein oft in Verschränkung mit anderen Strukturkategorien herstellt‹. Denn: ›Über Begriffe wie Bewusstsein, Scham und Reflexionsbereitschaft und –vermögen eröffnen sich Perspektiven auf unterschiedliche Identitätsmuster von Weißsein‹; Anette Dietrich problematisiert die ›Konstruktionen weißer weiblicher Körper im Kontext des deutschen Kolonialismus‹ und ruft auf zu einer feministischen, herrschaftskritischen Auseinandersetzung; Katharina Walgenbach stellt historische Interdependenzen zu ›Weißsein und Deutschsein‹ her, wobei sie fest stellt, dass die deutsche Beschäftigung mit dem Begriff ›Rasse‹ einerseits durch die nationalsozialistische Vergangenheit tabuisiert, andererseits aber in der sozialen Realität vorhanden ist; der international anerkannte Rassismusforscher Sander L. Gilman bringt mit dem erst einmal irritierenden Titel ›Die jüdische Nase‹ einen ›rassenkundlichen‹ Beitrag in das Buch ein; Eske Wollrad trägt mit ihrem Text ›Weißsein und bundesdeutsche Gender Studies‹ einen Baustein zur aktuellen Gender-Diskussion bei; Carsten Junker stellt ›Überlegungen zu einer kritischen Analysekategorie in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften‹ an. Sein Fazit: Erst wenn ›Rasse‹ als problematische (und real existierende) Kategorie der Strukturierung von Wissen (und dessen Produktion) benannt wird, kann das Problem der Hierarchisierung aufgrund der Konstruktion von ›Rasse‹ bewusst gemacht werden; Astrid Albrecht-Heide wendet sich in ihrem Beitrag dem Problem ›Weißheit und Erziehungswissenschaft‹ zu – ein wichtiger, überfälliger Hinweis auf das den ›weißen (oder schwarzen) Fleck‹ bei den Bildungs- und Erziehungsinstanzen in Deutschland; Katharina Schramm stellt in ihrer Methodenreflexion ›neue Felder‹ in der Ethnologie vor, von der Ethnologie als Kolonialwissenschaft bis hin zur Anforderung, ›homework‹ zu betreiben; Antje Hornscheidt spießt mit ihrem Beitrag ›(Nicht)Benennungen‹ den Zusammenhang von Critical Whiteness Studies und Linguistik auf (vgl. dazu auch das Buch von Susan Arndt und Antje Hornscheidt, Hrsg., Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, 2004). Julia Roth setzt sich in ihrem Beitrag mit der deutschen Literaturrezeption und –rezension mit dem Werk von Toni Morrison, insbesondere ihrem Anliegen, ›Whiteness‹ als Definitions- und Handlungsmacht darzustellen. Ihr pessimistisches Fazit: Die ›weiße (deutsche) Verweigerung‹, sich mit kritischer Essayistik, die von ›Schwarzen Stimmen‹ kommt, unvoreingenommen und nicht aus der Position der ›weißen‹ Standpunkte aus zu betrachten, bedarf in der Tat des Perspektivenwechsels auch in der deutschen Literaturkritik. Zum Schluss kommen noch drei Autorinnen mit Reflexionen zu ihrer ›weißen‹ Identität zu Wort. Juliane Strohschein fragt, als Studierende an einer weißen Universität, woher denn ihr Wissen über ihr Weißsein komme. Da hilft schon die Möglichkeit, sich mit dem Anderssein der Mitmenschen auseinander zu setzen, also interkulturelle Kompetenz zu erwerben. Dagmar Schulz kommt in ihrem Nachdenken und ihrer Biographieforschung über Whiteness zu der Erkenntnis, dass ihre berufliche Entwicklung als deutsche Wissenschaftlerin in den USA nicht unerheblich mit ihrem Weißsein zu tun habe. Sie erkennt aber durchaus auch eine positive Veränderung, die es schwarzen und migrierten Frauen heute leichter mache, akademische Positionen einzunehmen. Ursula Wachendorfer schließlich provoziert mit ihrer Aussage: ›Weiße halten weiße Räume weiß‹, und sie macht dabei auf den wohlmeinenden, alltäglichen Rassismus an unseren Hochschulen aufmerksam, der sich nur allzu leichtfertig und wenig reflektiert in der Aussage verrät: ›Wir sind doch alle Menschen‹.

Die in ihrer thematischen Vielfalt und in durchaus unterschiedlicher Qualität formulierten Texte, einschließlich von zwei Poems – ›Zaubersprüche‹ von Makoto Takeda und ›Muße: Ich‹ von RonAmber Deloney – machen die Veröffentlichung zu einem wichtigen Kompendium zur aktuellen, ausbaufähigen und –bedürftigen Weißseinsforschung. Ob sich im wissenschaftlichen Diskurs irgendwann einmal ein griffigerer deutscher Begriff für die Critical Whiteness Studies findet, soll hier einmal dahingestellt bleiben. Das Handbuch wird sicherlich nicht auf den Nachttischen des alltäglichen Lesers liegen, sondern, dahin gehört es nämlich, den Studierenden insbesondere der sozialwissenschaftlichen, pädagogischen, ethnologischen, historischen und psychologischen Fächer, den Lehrenden an den Hochschulen und nicht zuletzt Lehrerinnen und Lehrern, ein Richtungsweiser sein können, die jeweilige ethnische Identität nicht als woher-auch-immer-gegeben hinzunehmen, sondern in einer kritischen Auseinandersetzung das eigene Weißsein im Kontext des Andersseins zu betrachten, damit jeder Mensch Sich-selbst-sein kann. ›Lass mich ich sein‹, dieser Anfang des Gedichts eines afrikanischen Lyrikers, könnte gleichzeitig ein Motto für eine kritische Weißseinsforschung in Deutschland sein. So wird man das Buch ›Mythen, Masken und Subjekte‹ als einen Baustein zur fälligen Entdeckungsarbeit über das eigene Selbstverständnis Hier und Heute bezeichnen können!«

Die Rezension wurde von Jos Schnurer zur Vorabveröffentlichung zur Verfügung gestellt. Sie erschien in gekürzter Form in der Afrika-Post und auf der Website www.initiativen-partnerschaft.de