Ein Kleinod des Magischen Realismus – über das Leben im Tod und den Tod im Leben

Santiago de Machaca

Aus dem Spanischen von Helga Castellanos und Christa Fabry de Orias
ISBN: 978-3-89771-646-9
Erscheinungsdatum 30. Oktober 2002
120 Seiten, Hardcover

14,00 

Kategorie:

Dieser Roman ist das letzte Werk von Jaime Saenz. Santiago de Machaca ist ein Toter, den das Fleckfieber zwar ins Grab gebracht, aber nicht umgebracht hat. Da ein Arzt behauptet hat, er sei tot, hat man ihn auch beerdigt, aber er lebt im Grab weiter. »Das Grab ist überall da, wo man lebt«, sagt er. Santiago erscheint mit dem Abend und »streicht verstohlen« durch die Stadt. Er hat Freunde und Feinde, reist, redet mit den Indios, weiß alles, berät. Er hat sogar eine Freundin, Rosa, die fünfundzwanzig Jahre alt ist und nichts mehr von ihm wissen will, obwohl er ihr dauernd Gold schenkt. »Der Umstand, ein Leben im Tod zu leben, und einen Tod im Leben zu sterben, ist sehr sonderbar«, stellt Santiago fest.

Rezension

Jaime Sáenz: Santiago de Machaca.

Nach “Die Räume” und “Der Señor Balboa” (siehe Besprechung und Sáenz-Porträt in “Lateinamerika Anders” Nr.2/02 Resension ) ist nun der dritte Roman des bolivianischen Autors in deutscher Übersetzung herausgekommen – ein vierter ist bereits in Vorbereitung. Erfreulich und lobenswert, dass sich der kleine linke Verlag aus Münster an so ein ambitioniertes Verlagsprojekt herantraut. Schließlich ist der 1986 verstorbene Schriftsteller nicht nur in Europa völlig unbekannt – mit Ausnahme von Italien, wo ebenfalls mehrere Werke von ihm publiziert wurden –, sondern er ist auch in seiner Heimat wieder dem Vergessen anheimgefallen. Diese Erfahrung musste kürzlich IGLA-Mitarbeiter Robert Lessmann machen, als er in La Paz in mehr als zwanzig Buchhandlungen und Antiquariaten ein Buch von Jaime Sáenz suchte. Erfolglos. Schließlich bekam er es über eine Internet-Versandbuchhandlung aus Kalifornien.
Eine Konstante, die sich durch das ganze Werk von Jaime Sáenz – soweit es dem Rezensenten bisher bekannt ist – hindurchzieht, ist ein ganz eigenartiges, spezifisches Raumgefühl, das der Autor vermittelt. Ein Raum, der weit über die dreidimensionale Räumlichkeit hinausgeht, und den man, mangels eines passenden Ausdrucks, den Sáenz-Raum nennen müsste. Es ist ein schwer beschreibbarer, imaginärer Raum, in dem alles möglich erscheint, die Handlung jederzeit einen unerwarteten Haken schlagen kann, einmal erfüllt von der Tragik und Absurdität des Daseins und dann wieder voller Leere und Banalitäten, die als weise Aussagen verkleidet werden; ein Raum, der in seiner Nicht-Fassbarkeit verunsichert und verwirrt, ein dunkler, kalter Raum.
“Santiago de Machaca” ist der letzte Roman von Jaime Sáenz; er erschien erst 1996, zehn Jahre nach dem Tod des Autors. Die Handlung spinnt das Zentralthema Sáenz’ von Leben, Sterben und Tod weiter. Im “Señor Balboa” hatten die Erben dem verstorbenen Herrn Balboa auf den Grabstein schreiben lassen: “Im Grab lebt das Leben. Es weiß: der Tod ist ein Gemütszustand.” Santiago de Machaca erscheint wie eine Verkörperung dieser Inschrift. Er starb an Fleckfieber, doch nicht ganz, denn nach dem Begräbnis wachte er auf – und lebt seither als Lebender im Grab, das er jedoch nach Lust und Laune verlassen kann. Dann schlendert Herr Santiago durch die Stadt, trifft Bekannte, reist durch das Land – und all das in dem Bewusstsein, dass er in einer undefinierten Zone zwischen Leben und Tod existiert.
Häufig trifft er sich mit dem Ich-Erzähler des Romans – der deutliche autobiographische Züge trägt, vor allem bei den Alkohol-Eskapaden mit Santiago! Die beiden saufen, philosophieren, schmieden Reisepläne. Santiago will seinem Freund seine Goldmine zeigen, von der er immer wieder Fläschchen mit Goldstaub bezieht, woraus er seinen Unterhalt bestreitet. Doch kurz vor der geplanten Abreise verschwindet der Protagonist sang- und klanglos. Niemand weiß, und niemand erfährt, wo er ist. Ende.
Dieser Zwischenraum des Santiago de Machaca zwischen Leben und Tod ist ein typischer Sáenz-Raum. Santiago “weiß sehr wohl, dass er tot ist”, und “ihn erfüllt Entsetzen, weil er glaubt, dass er lebendig ist”. Er lebt das Leben eines normalen Erdenbürgers, doch kehrt er immer wieder ins Grab zurück, lebt dort wie in einem Zweitwohnsitz, spricht mit den Toten. “Ich weiß, dass das Grab überall ist. Alle leben im Grab, aber niemand weiß, wo es ist.” Doch wenn die ganze Welt ein Grab ist, was ist dann der Tod? “Der Tod ist ein Gemütszustand”, heißt es auf der Grabinschrift des Herrn Balboa. Heißt das, dass der Tod nicht das biologische Ende unseres irdischen Daseins ist, sondern nur eine bestimmte mental-emotionale Variante unserer Condition humaine darstellt? Der Tod als Zustand der Leere, wenn die Gefühle erloschen sind?
Doch mit Interpretationen muss man vorsichtig sein bei Jaime Sáenz. Dieser magische Realist vom Altiplano ist auch ein Witzbold, ja manchmal erscheint er sogar als einsamer bolivianischer Vertreter der Nonsense-Literatur. Aber auch wenn seine Aussagen manchmal schwer zu deuten sind: Eine Reise in die Welt des Jaime Sáenz ist allemal sehr zu empfehlen.
Werner Hörtner, Lateinamerika anders

Leonardo García Pabón über Jaime Saenz

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Informationen zu der Autor*in

Jaime Saenz (1921-1986, La Paz, Bolivien) schrieb ca. 20 Werke und zählt in Lateinamerika zu den großen Schriftstellern. Im Ausland ist er bisher jedoch weitgehend unentdeckt, da Bolivien noch immer ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte ist. Saenz hat sich selbst nie um öffentliche Anerkennung bemüht, er lebte nur für das Schreiben. Viele Jahre seines Lebens empfand er das Tageslicht als Bedrohung, schlief während des Tages und wurde erst nachts aktiv. Es verwundert daher nicht, daß seine Themen Kälte, Ferne, Raum, Nacht, Körper und Tod heißen.

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