Patient Massenmörder

Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse
ISBN: 978-3-89771-754-1
Erscheinungsdatum 19. Oktober 2009
184 Seiten, softcover

24,00 

Edition Diss Band: 25

Hirnforschung, die Täter der RAF, Amokläufe in Schulen – in der Auseinandersetzung über solche Themen beziehen sich WissenschaftlerInnen und JournalistInnen bis heute auf einen Mordfall, der sich vor einem knappen Jahrhundert ereignete.
Ernst August Wagner, Hauptschullehrer aus Degerloch bei Stuttgart, tötete in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1913 seine Frau und seine vier Kinder. Anschließend erschoss er neun weitere Menschen und verletzte elf schwer. Bis 1938 fristete er sein Leben in einer psychiatrischen Anstalt. Immer wieder stellte er fest: Er bedauere nicht, seine Kinder getötet zu haben, da sein ganzes Geschlecht entartet sei.
Hier traf sich die Rede des Mörders mit der seines Arztes. Robert Gaupp, Leiter der Universitätsnervenklinik Tübingen, machte Ernst Wagner zu seinem Fall und entwickelte an ihm die Lehre von der echten Paranoia. Parallel dazu forderte der angesehene Mediziner als Befürworter von Eugenik, Rassenhygiene und Zwangssterilisation schon 1920 die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.
Die Studie untersucht das Geflecht biopolitischer Diskurse, in dem sich der Mörder und sein Arzt gemeinsam bewegten. Erstmals werden die den Fall bis heute begleitenden Schriftdokumente aus Presse, Politik und Wissenschaft erfasst und kritisch kommentiert. Ausgehend vom Fall Wagner weist der Autor nach, wie die Psychiatrie systematisch die Reichweite ihrer Diskurse ausdehnte, bis im Nationalsozialismus schließlich eliminatorische ärztliche Praktiken möglich wurden. Der Täter Ernst Wagner und seine Psychiater erscheinen somit als Referenzfiguren eines Jahrhunderts der Biopolitik, das keineswegs 1945 endete.

Rezensionen

“In seinem Buch spürt Rolf van Raden, dessen journalistische Erfahrung das Buch auch für Laien verständlich macht, der Frage nach, wie es dazu kommt, dass der fast hundert Jahre alte Mordfall bis heute eine Rolle spielt. Der Autor rekonstruiert, wie im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik über den Fall gesprochen und geschrieben wurde. Dabei kommt er zu bemerkenswerten Ergebnissen: Zunächst bemächtigten sich die Psychiater des Falls. Mit dem Hinweis auf den gefährlichen Geisteskranken verbreiteten sie Degenerations- und Entartungstheorien. Schritt für Schritt weist der Autor nach, wie die Psychiatrie systematisch die Reichweite ihrer Diskurse ausdehnte, bis im Nationalsozialismus schließlich die ärztliche Tötung von mehr als 100.000 Anstaltsinsassen möglich wurde. Der Täter Ernst Wagner und seine Psychiater erscheinen in diesem Zusammenhang als Referenzfiguren eines Jahrhunderts der Biopolitik, das keineswegs 1945 endete: Bis heute werde die Politik maßgeblich durch die Frage geprägt, wie das Gesellschaftskollektiv vor seinen inneren und äußeren Gefahren geschützt werden könne. Indem der Autor die Diskurse über Krankheit, Verbrechen, Schuld und Geisteskrankheit bis in die Gegenwart nachverfolgt, zeigt er: Noch immer wird die vor den Gefahren zu schützende Gesellschaft als quasi-biologischer Organismus gedacht.”

Bochum alternativ, 3.10.09

“(…) Die von Ernst August Wagner begangenen Morde sind so auch im 21. Jahrhundert Ausgangspunkt von Debatten über Schuld und biologische Anormalität von Straftätern. Die historische Perspektive ist dabei nicht ohne Brisanz für die aktuellen Diskussionen, zum Beispiel über den umgang mit AmokläuferInnen. In solchen Debatten wird schließlich bis heute gesellschaftlich festgelegt, was als normal und gesund oder unormal und krank zu gelten hat.”
Ein alter Mordfall ganz aktuell. Der kranke Verbrecher. Bochumer Stadt- und Studierendenzeitung Nr. 806 vom 4.11.09

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Informationen zu der Autor*in

Rolf van Raden ist Literatur- und Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Außerdem publiziert er als freier Journalist. Seine Forschungsschwerpunkte sind Diskursanalyse, Psychiatriegeschichte, Verschränkung von politisch-sozialen, medizinischen und literarischen Diskursen.

Veröffentlichungen:
Patient Massenmörder. Der Fall Ernst Wagner und die biopolitischen Diskurse, Münster: Unrast 2009;
Psychiatrie der Prävention. Diskursverschränkungen von Medizin und Sicherheit. In: Kriminologisches Jour- nal 4/2010, 289-302;

Mehrere Beiträge in: Marius Babias/Florian Waldvogel (Hg.): Freedom of Speech. Köln: Walther König 2011;
Tradierte Aussagesysteme. Psychiatrie und Biomedizin als Diskurs und politische Praxis. In: S. Dickel/M. Franzen/ Ch. Kehl (Hg.): Herausforderung Biomedizin – Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis. Bielefeld: Transcript 2011.