Geschichte nach Auschwitz

ISBN: 978-3-89771-409-0
Erscheinungsdatum 31. Januar 2002
220 Seiten, softcover

16,00 

Kann kritische Gesellschaftstheorie noch etwas mit den Begriffen Revolution und Geschichte anfangen, nachdem die Alternative Sozialismus oder Barbarei im Nationalsozialismus entschieden worden ist? Wenn es darauf ankommt, »eine schon von der Barbarei gezeichnete Gesellschaft zu begreifen« (Enzo Traverso), also auch der Begriff der Revolution schon durch Auschwitz »angefressen« ist (Adorno), läßt sich dann auf diese Begriffe noch in emanzipatorischer Absicht rekurrieren?
Inhalt

jour fixe initiative berlin
Geschichte nach Auschwitz

Elfriede Müller / Alexander Ruoff
Interpreten des Grauens
Geschichte und Verbrechen im französischen roman noir

Enzo Traverso
Sozialismus nach Auschwitz
Bemerkungen zum politischen Gebrauch der Erinnerung

Zeev Sternhell
Von der Aufklärung zum Faschismus und Nazismus
Reflexionen über das Schicksal der Ideen im 20. Jahrhundert

Bernhard Jensen
Exil und Remigration im philosophischen Diskurs nach Auschwitz

Michael T. Koltan
Die Editionsgeschichte der »Feuerbach-Manuskripte«

Helmut Dahmer
Wie die »Psychoanalytische Bewegung« zum Stillstand kam
Die Erosion einer kritischen Theorie

Frank Winter
Architektur und Geschichtsbewusstsein
Versuch über den neuen Potsdamer Platz in Berlin

Mark Simons
Berliner Passagen

Ute Gerhard
Das symbolische Modell der »zerstreuten Masse«
Entwürfe einer etwas anderen Geschichte bei Benjamin und Kracauer

Einleitung:
Heute scheint es undenkbar, dass je wieder eine Revolution Geschichte machen könnte. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und der deutschen Vereinigung scheint der Gedanke, dass es weitere qualitative Umbrüche von Gesellschaftsordnungen geben könnte, obsolet zu sein. Es gibt nur noch Geschichte und einen Boom der Erinnerung an sie. Man hat nichts zu erwarten als die technizistische Vervollkommnung der Gegenwart der sich allein noch der hässliche Rückgriff auf nationalpartikulare, ethnische oder religiöse, rigide und geschlossene Gemeinschaftsformen entgegenzustellen scheint.
Was heißt das für eine Gesellschaftstheorie, die die Gesellschaft als Ganzes kritisiert, und deren Hoffnung sich nach wie vor auf eine radikale Umwälzung richtet, die also hoffnungslos anachronistisch erscheinen muss? Kann kritische Gesellschaftstheorie noch etwas mit den Begriffen Revolution und Geschichte anfangen, nachdem die Alternative Sozialismus oder Barbarei im Nationalsozialismus entschieden worden ist? Wenn es darauf ankommt, »eine schon von der Barbarei gezeichnete Gesellschaft zu begreifen« (Enzo Traverso), also auch der Begriff der Revolution schon durch Auschwitz »angefressen« ist (Adorno), lässt sich dann auf diese Begriffe noch in emanzipatorischer Absicht rekurrieren?
Diese Fragen lagen den Vorträgen zugrunde, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Geschichte nach Auschwitz« 2000/2001 in Berlin gehalten und diskutiert worden sind und die dieser Band dokumentiert. Wie bereits in den drei vorangegangenen Reihen, ging es den Beteiligten darum, diese Problematik sowohl aus der Perspektive der Kritischen Theorie, als auch von den als postmodern rubrizierten Theorierichtungen aus zu beleuchten, verstehen sich doch beide als explizit kritische Analysen der Gesellschaft, ihrer Geschichte und Zukunft. Die Frage, ob ihre Weigerung – bei allen methodischen und inhaltlichen Differenzen – trotz der Katastrophen die Hoffnung aufzugeben, gerechtfertigt ist, bildet den Fluchtpunkt der hier versammelten Aufsätze.
Schon in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen sind Fortschrittsglaube und revolutionäre Hoffnung voneinander entkoppelt. Die Geschichte erscheint als eine Abfolge von Katastrophen, anstatt auf eine bessere Zukunft zu verweisen. Einzig in der Erinnerung an die Niederlagen, die Tradition der Unterdrückten, erblickt Benjamin eine gewisse Hoffnung, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen und den Tigersprung unter freiem Himmel zu vollbringen. Allerdings erscheint es heute, mit dem ganzen Wissen von Auschwitz, zweifelhaft, ob die Engführung von geschichtlicher Erinnerung und revolutionärem Impuls noch denkbar sein kann. Nicht nur werden die Toten von den Siegern als Beweis ihrer Läuterung und Garant ihrer Identität instrumentalisiert, es lässt sich auch aus einem Ereignis, das jeder Sinnhaftigkeit entbehrt und dadurch die Versprechen der Aufklärung ad absurdum geführt hat, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft schöpfen.
Wenn die Geschichte in der Katastrophe festzusitzen scheint, ist zuallererst zu klären, ob diese Feststellung zutrifft, wie es dazu kommen konnte und welche Möglichkeiten einer kritischen Praxis und Theorie in dieser Situation noch verbleiben. Symptomatisch ist, dass heutzutage ein bewusstloses switchen zwischen dem Gestus des rien ne va plus und des anything goes stattfindet. Kritische Gesellschaftstheorie, die sich nicht scheut, auch auf postmoderne Theoriebildung zurückzugreifen, kann diesem Problem in zweifacher Hinsicht nachgehen: Zum einen kann sie die Klassiker der Revolutionstheorie kritisch analysieren und auf Arbeiten aufbauen, für die die Revolution ihre utopische Unschuld längst verloren hat, zum anderen ist sie in der Lage, methodische Reflexionen über das Verhältnis des geschichtlichen Ereignisses als Faktum und dem Problem seiner Repräsentierbarkeit in einer Erzählung anzustellen.
Konnte man Ende des 19. Jahrhunderts die Revolution noch als die »Lokomotive der Geschichte« verstehen, so änderte sich dies nach Auschwitz vollständig. Für Benjamin stellt sie die Notbremse dar, die Aufeinanderfolge von Katastrophen, als die er die Geschichte verstand, zu einem Halt zu bringen. Der Kritischen Theorie der Dialektik der Aufklärung erscheint eine Revolution unmöglich aufgrund der fehlenden Vermittlung in der totalen Gesellschaft. Sie sieht Hoffnung alleine noch in der Flaschenpostfunktion der Analyse. Gleichzeitig hält sie daran fest, dass die Geschichte einer Logik folgt, die man erkennen und nachvollziehen kann. Für Günter Anders dagegen war die Geschichte in einer Sackgasse angelangt, als die technische Revolution die Technik als Subjekt der Geschichte setzte und den Menschen als antiquierten Anachronismus zurückließ. Verabschiedet sich der Mensch als Subjekt der Geschichte, kommt diese an ein Ende, weil ihr Begriff den Menschen als Subjekt voraussetzt. Postmoderne Denker wie Jean Baudrillard kennen den Begriff der Revolution nicht mehr. Baudrillard spricht bereits zu einem Publikum, das sich in der Gleichförmigkeit des Prozesses eingerichtet hat und unterscheidet zwischen dem Lauf der Katastrophe und der Katastrophe die diesen Lauf unterbricht: »Es ist ähnlich wie bei der Beschleunigung einer Flüssigkeit: sie produziert Turbulenzen und Anomalien, die ihren Lauf behindern oder ihn umleiten. […] So dienen die extremen Phänomene in ihrer geheimen Unordnung als Prophylaxe per Chaos gegen die extreme Zunahme der Ordnung und Transparenz. […] Angesichts der Gefahr einer totalen Schwerelosigkeit […] einer Geradlinigkeit der Prozesse, die uns ins Leere ziehen, sind diese plötzlichen Wirbel, die wir Katastrophen nennen, auch das, was uns vor der Katastrophe schützt.« Bezieht man dieses Bild (bei dem die Frage ist, ob es physikalisch überhaupt stimmt) auf die Vernichtung der europäischen Juden, so stellt sich die zynische Frage, vor welcher wirklichen Katastrophe Auschwitz uns denn bewahrt habe.
Diesem sich verändernden Verständnis von Geschichte und Revolution wird in den Beiträgen dieses Bandes ebenso nachgegangen, wie der kritischen Analyse ihrer Beschreibung. Es gilt den Graben auszumessen, der sich zwischen dem Ereignis und seiner Repräsentation auftut. Saul Friedländer weist darauf hin, dass selbst die nüchterne Sprache des Historikers eine verschleiernde Wirkung hat, we

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