»Solidarität ist dieser Tage zu einem politischen Schlagwort geworden, das sowohl von sozialen Bewegungen als auch von Mandatar:innen des gesamten politischen Spektrums in Anschlag gebracht wird. Der allgegenwärtige Einsatz des Solidaritätsbegriffs in der politischen Praxis hat dabei auch den akademischen Diskurs angestoßen, wie eine Reihe von neuen Publikationen im deutschsprachigen Raum erkennen lassen (…). Dem von Lea Susemichel und Jens Kastner 2021 im Unrast-Verlag erschienenen Sammelband Unbedingte Solidarität kommt unseres Erachtens eine besondere Bedeutung zu, insofern er zu einer grundlegenden Neuverständigung des Solidaritätsbegriffs anregt, der identitäre Schulterschlüsse unterwandert. Dem Sammelband, der sechzehn Beiträge aus wissenschaftlichen und aktivistischen Kontexten enthält, ist eine instruktive Einleitung der Herausgeber:innen vorangestellt, die eine historische und systematische Rekonstruktion des Solidaritätsbegriffs liefert. Unbedingte Solidarität zeichnet sich dabei für Susemichel und Kastner wesentlich durch folgende drei Aspekte aus: Erstens setzt unbedingte Solidarität ›keine[n] gemeinsamen Erfahrungshorizont‹ (15)1 und keine ›gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Gruppe‹ (7) voraus. Kontrastfolie für ihr Konzept bilden dabei Formen von ›Gemeinschaftssolidarität‹, wie sie etwa Émile Durkheim, Léon Bourgeois und Peter Kropotkin vorgelegt haben. Bei den genannten Autoren ist es die geteilte Erfahrung bzw. soziale Nähe, die als Bindekraft für Solidarität dient, wie etwa am Beispiel von Kropotkins Berg- und Seeleuten deutlich wird, ›deren gemeinsame [] Beschäftigungen und […] tägliches Zusammenleben ein Gefühl von Solidarität‹ (…) entstehen lassen. Gegen dieses Solidaritätsmodell wenden Susemichel und Kastner ein, dass es der Logik einer ›identitätspolitische[n] Form der positiven Bezugnahme‹ (23) folge, die auf Ähnlichkeit angewiesen ist. Wenn sie dabei mit Diane Elam für eine ›groundless solidarity‹ (…) einstehen, die Differenz affirmiert, dann gerade deshalb, um den Fallstricken eines liberalen Inklusionsmodells auszuweichen, das von der Idee geleitet ist, dass die Anderen in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden müssen, um in der Solidargemeinschaft Anerkennung zu finden. Die Problematik der Gemeinschaftssolidarität besteht also darin, dass man sich für eine Solidargemeinschaft qualifizieren muss, was sich nur durch eine Angleichung an die Wir-Gruppe bewerkstelligen lässt. Demgegenüber beruht unbedingte Solidarität, so Susemichel und Kastner, auf ›Konflikte[n] (und nicht der Konformität)‹ (14). Zweitens lässt sich unbedingte Solidarität nicht auf eine Politik des Kalküls ein, d.h. sie ist nicht als ein ›Tauschgeschäft von Rechten und Pflichten oder Kosten und Nutzen‹ (15) zu verstehen, denn damit würden Solidarbeziehungen auf Handelsbeziehungen reduziert. Drittens und letztens formulieren Susemichel und Kastner, ohne dies weiter zu begründen, ein emphatisches Plädoyer für die Dringlichkeit von Solidarisierung: Mehr Solidarität ist, so der Tenor, ›unbedingt notwendig‹ (15).
Vor diesem Hintergrund verfolgen die Herausgeber:innen mit ihrem Sammelband das Ziel, kritisch in solche theoretischen Debatten zu intervenieren, die Solidarität auf Identität gründen. Demgegenüber stehen sie für eine sogenannte unbedingte Solidarität ein, wobei sie den Begriff des Unbedingten nicht näher bestimmen. Zumal die Herausgeber:innen gleichzeitig auch ›Bedingungen der Möglichkeit von Solidarität‹ (48) ausmachen möchten,2 stellt sich die Frage, wie sich das Verhältnis von Bedingtem und Unbedingtem denken lässt. Im Rahmen dieser Rezension möchten wir zeigen, dass sich ausgehend von dieser Unbestimmtheit zwei Lesarten des Unbedingten unterscheiden lassen. Einer moderaten Lesart stellen wir dabei eine radikale gegenüber: Unter einer moderaten Lesart verstehen wir den Versuch, Solidarität juridisch-sozialstaatlich herzustellen, kurzum: den Sozialstaat als Bedingung für Solidarisierung anzusehen. Im Gegensatz dazu steht eine radikale Lesart der unbedingten Solidarität im Zeichen eines Dispositivs der Befragung: Die unbedingte Solidarität dient hier als kritischer Stachel, mit dem gelebte Praktiken hinterfragt werden können. Auch wenn die beiden Lesarten, wie wir nachstehend zeigen, aufeinander Bezug nehmen, bergen sie unterschiedliche Demokratisierungspotentiale und fallen nicht notwendigerweise zusammen. Um den beiden im Sammelband auffindbaren Lesarten des Konzepts der unbedingten Solidarität auf die Spur zu kommen, diskutieren wir diese exemplarisch anhand von vier Beiträgen: Silke van Dyk gilt uns dabei als Verfechterin einer moderaten Lesart des Konzepts, Monika Mokre sowie Brigitte Bargetz, Alexandra Scheele und Silke Schneider ordnen wir hingegen einer radikalen Lesart zu. Torsten Bewernitz, der das Konzept der unbedingten Solidarität zurückweist und ein eigenes vorschlägt, legt unseres Erachtens letztlich auch eine radikale Lesart vor.« – Anna Weithaler und Michaela Bstieler, Genealogy+Critique 9, 2023