»Neue Töchter Afrikas sammelt verschiedene Stimmen in Form von Kurzgeschichten, Essays, Gedichten und sogar einer Szene eines Theaterstücks. Es ist eine Übersetzung und Auswahl aus dem ursprünglich 1992 erschienenen Sammelband Daughters of Africa (Pantheon Books) und der 2019 erschienenen Anthologie New Daughters of Africa (Harper Collins). Unglaublich nuanciert und feinfühlig zeigen die 30 Frauen in den Ausschnitten, was es für sie persönlich heißt, afrikanisch zu sein, die afrikanische Diaspora zu erleben und wie dieser Umstand ihre Lebensrealität prägt. Dadurch kommt es auch teilweise zu gegensätzlichen Erfahrungen, was aber angesichts der vielfältigen Hintergründe überhaupt nicht verwundert. Die Anthologie umfasst eine große Spannweite von Personen verschiedenen Alters, verschiedener Herkunft und Wohnorte. So werden auch Spotlights auf im europäischen Diskurs weniger häufig vertretene Autor*innen gerichtet.
In den Texten geht es darum, die Verbundenheit zu Vorfahren aus Afrika herzustellen, und um die Anerkennung der afrikanischen Identität, die durch die koloniale Vergangenheit und Versklavung unterdrückt oder zerstört wurde. Marina Salandy-Brown geht eindrücklich auf das Wiederfinden der verloren geglaubten Verbindung ein: ›Und so beschenkte unsere Großmutter uns in fließendem Haussa mit Geschichten aus ihrer Zeit auf jenem verbotenen Kontinent. […] Es war die Bestätigung – endlich, dass meine Großmutter eine ‘afrikanische’ Vergangenheit hatte.‹ Dabei wird auch auf die Umstände und Ungerechtigkeiten der Kolonialherrschaft eingegangen; beispielsweise beschreibt Ellah P. Wakatama in ihrem Essay, wie Soldaten der afrikanischen Kolonien für die britische Krone in beiden Weltkriegen kämpften, jedoch nie auch nur annähernd die gleiche Anerkennung für ihren Einsatz erhielten. So fühlen sich der Autorin zufolge viele Schwarze Personen aus ihrer Kultur herausgerissen – ausgenutzt – und zurückgelassen.
Es sind aber nicht nur geschichtliche und gesellschaftliche Umstände, die in Neue Töchter Afrikas angesprochen werden, sondern auch persönliche Schicksale, insbesondere die individueller Frauen, die in ihrer Lebensgeschichte gegen historische und moderne Fremdbestimmung mal mehr und mal weniger subtil ankämpfen. Die Protagonistinnen sind aber keineswegs Philosophinnen oder Politikerinnen, sie sind Großmütter, Rentnerinnen, einfache Angestellte, Studentinnen oder Hausfrauen, oft gefangen im europäischen oder amerikanischen unfreiwilligen Exil. Ihnen bleibt nur die innere Überzeugung, dass sie nicht, wie über Jahrzehnte gelehrt, weniger wert seien als andere weiße Personen: ›Veron schenkte ihr die einzige Wahrheit, die sie kannte. Black woman hard fu rub out, them need some special eraser for that. Ent you seee them? Schwarze Frauen sind schwer auszuradieren, dafür braucht es einen speziellen Radierer.‹
Besonders beeindruckend und berührend ist Beatrice Lamwakas Erzählung über die Erfahrung einer Frau mit Genitalverstümmelung. Anders als in vielen anderen Diskursen geht es hier nicht rein um die Brutalität des Eingriffs, sondern um den kindlichen Wunsch, ›dazuzugehören‹, erwachsen werden zu wollen, die zeremonielle Feierlichkeit und letztendlich den unglaublichen Verlust, den die Betroffene als erwachsene Frau wahrnimmt. Dieses bedrängende und quälende Gefühl, dass ein Teil von ihr und all ihren weiblichen Familienmitgliedern, Freundinnen und Bekannten entfernt wurde, beschreibt sie als fehlenden Buchstaben im Alphabet der Welt. ›Wir waren das Alphabet und das ‘K’ fehlte.‹
Mit akuter Relevanz beschreibt Ketty Nivyabandi autobiografisch, was es bedeutet, aus der Heimat flüchten zu müssen, und auf einem neuen Kontinent mit Erwartungen der Dankbarkeit, der Freude auf ein ›neues‹ Leben oder der Demut konfrontiert zu werden. Sie trauert ihrem geliebten Leben nach, das sie zurücklassen musste, und kämpft damit, im neuen Wohnort als jemand wahrgenommen zu werden, der ›aufgegeben‹ habe, nicht dazugehören soll, ein Niemand ist und der das ›neue‹ Leben nicht verstehe. Diese Abgrenzung und Verfremdung, die Schwarze Frauen erleben müssen, wird in mehreren Werken dieser Anthologie deutlich. Gleichzeitig legt aber beispielsweise Zadie Smith dar, wie sie mit ihrer Ankunft in den USA zum ersten Mal von zunächst Fremden als ›Schwester‹ angesprochen und aufgenommen wurde: ›Ein Universum tat sich mir auf, in dem nationale Grenzen keine Bedeutung hatten. Ich war Teil einer historischen und geografischen Diaspora, die inzwischen in jeden Winkel der Erde vorgedrungen war und was kein Pass enthalten oder ausdrücken kann.‹ Gerade darin liegt auch ihre Kraft, denn obwohl die Stimmen unterdrückt, ausgelöscht oder ignoriert wurden, sie sind noch da und sie sind nicht alleine.« – Kathrin Fiedler, Rezensöhnchen, 72. Ausgabe, 31. Juli 2023