kritisch-lesen.de über ›Sexuelle Differenz‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen kritisch-lesen.de über ›Sexuelle Differenz‹


»Gender Trouble, das ist es, was manche Thesen von Tove Soiland bei ihren Leser*innen hervorrufen könnten. Sie ist eine präzise Beobachterin der modernen Gesellschaft und hält ein Instrumentarium bereit, das nicht allen geläufig sein mag: die psychoanalytischen Theorien Jacques Lacans, und die seiner Kritikerin Luce Irigaray sowie eine an Marx orientierte neuere Lacan-Rezeption. Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die Gegenwart, so heißt der Aufsatzband, der von Anna Hartmann herausgegeben wurde und Texte von Soiland seit 2003 versammelt. Vor allem zwei Punkte machen das Buch lesenswert und den daraus resultierenden Blick auf unsere postmodern-neoliberale Gesellschaft erhellend. Erstens stellt sie der Vorstellung, wir würden in einer zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft leben, mit Irigaray die These entgegen, dass wir es mit einer ›Ordnung der Eingeschlechtlichkeit zu tun haben‹ (S. 73), die jedoch patriarchal bestimmt ist. Und zweitens schlägt sie vor, unsere Gesellschaft als eine zu verstehen, in der die repressiven Verbote eines autoritären Vaters beziehungsweise Herrn, die den Genuss versperrten, schon längst abgelöst wurden durch das allumfassende Gebot des Genießens. Dagegen – und das ist keine Kleinigkeit – setzt Soiland mit Luce Irigaray den ›Versuch einer Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz‹ (S. 29).

Diese Formulierung lässt sich als Programm lesen. Ausgehend von den zentralen Thesen Irigarays, einschließlich deren Kritik an Lacan, sucht Soiland die kritische Auseinandersetzung mit einem an Judith Butler orientierten Gender-Feminismus, der durch eine Dekonstruktion der gängigen Modelle der Zweigeschlechtlichkeit das Ziel der Befreiung von der Geschlechterhierarchie meint erreichen zu können.


Denkwege in die Differenz


Im Kern stellt Tove Soiland die Frage, wie es sein könne, dass sich trotz gesellschaftlicher Fortschritte, einer zunehmenden Liberalisierung, Gleichstellungsbemühungen und der Dekonstruktionen von Zweigeschlechtlichkeit und festgefahrenen Rollenbildern die Hierarchie zwischen den Geschlechtern dennoch so hartnäckig hält. Oder anders: Was wurde hier übersehen?

Für eine Antwort, so Soiland, sollten feministische Ansätze das Denken der sexuellen Differenz ernst nehmen. In ihm verbirgt sich nicht, wie Irigaray oft vorgeworfen wird, eine Biologisierung oder Essentialisierung der Zweigeschlechtlichkeit. Das kann man auch Lacan nicht vorwerfen, der die Psychoanalyse zu einer zeit-, gesellschafts- oder kulturdiagnostischen Theorie macht und der gerade nicht, wie Soiland herausarbeitet, auf psychoanalytisch zu bearbeitende biologisch-essentialistische Wesenheiten zurückgreift. Sein entscheidender Punkt ist hier: die Bedeutung der Sprache. Über sie kommt der Andere ins Spiel. Und zwar auf zwei Weisen: Insofern wir grundlegend auf ihn verwiesen sind, aber er letztendlich unverfügbar bleibt. Beide Aspekte werden immer sprachlich vermittelt.

Gender-feministische Ansätze gehen oftmals davon aus, dass Subjekte sich gemäß gesellschaftlicher Normen und sprachlicher Festschreibungen bilden und Identitäten dementsprechend festgeschrieben werden. Geschlecht wird so entlang von Vorgaben konstruiert, die es zu dekonstruieren gilt. Die lacanianische Psychoanalyse legt ein anderes Subjektverständnis zugrunde. Subjekt ist, was aus der Angewiesenheit auf den anderen hervortritt und in ihm etwas hinterlässt, wofür Lacan die mehrdeutigen Begriffe ›Kerbe‹ oder auch ›Lücke‹ verwendet. Damit ist das Subjekt auf andere Weise als in gender-feministischen Theorien mit der Sprachlichkeit des Menschen verknüpft. Dies zeigt sich in frühkindlichen Zusammenhängen, die den Psychoanalytiker Lacan und seine Schülerin Irigaray interessieren. Sie führen zu dem zentralen Punkt der Theorie der sexuellen Differenz. Irigaray folgt Lacan, indem beide feststellen, dass diese Prozesse – zumindest in unserer westlich-abendländischen Kultur – gerade nicht zu einer Zweigeschlechtlichkeit führen, sondern nur einem der Geschlechter zum Subjektstatus verhelfen: dem Mann. Die Frau, die beispielsweise als Mutter ihre Gabe ›einfach voraussetzungslos‹ (S. 175), ohne eine symbolische Repräsentation, zur Verfügung stellen muss, bleibt in einem wenig sichtbaren Hintergrund. Für sie fehlen Formen der symbolischen Repräsentanz. Daraus, so Soiland, resultiert das gesellschaftliche Problem, dass der Bereich der Sorge, der emotionalen Bezogenheit und der Entwicklung der Subjekte auf vielfältige Weise gerade nicht vorkommt. Das aber ist keine Frage der Biologie, sondern historisch geworden. An dieser Stelle trennen sich die Wege von Irigaray und Lacan, dem sie vorwirft, diesen Zustand mit seiner Theorie zu verfestigen, während Irigaray und mit ihr Tove Soiland genau hier ansetzen, weil die weibliche Seite ›überhaupt erst einmal als Subjektposition zu formulieren wäre.‹ (S. 147) Anders und durchaus provozierend sagt sie: ›Ich bin davon überzeugt, dass es nach wie vor, oder dringlicher denn je wieder eine kollektive Artikulation der Position von Frauen braucht. ‹ (S. 96)

Diese knappe Darstellung wirft Fragen auf, auf die das Buch Antworten geben kann. So zum Beispiel die nach dem psychoanalytischen Subjektbegriff Lacans, einer für diese Theorie zentralen Verknüpfung von Sprache und Begehren, der daraus sich ergebenden Verhältnisbestimmung von Begehren und Genießen, aber auch, warum die Liberalisierung der Gesellschaft für Frauen zu etwas führt, das Soiland ›Selbstkannibalismus‹ nennt. […]

All das ist nicht folgenlos für eine feministische Theorie, für die zu verstehen wäre, welche Bedeutung die (Nicht-)Positionierung der Frau in diesem Gefüge und in diesem Prozess hat. Das in den Blick zu bekommen, leistet dieser Aufsatzband, nicht zuletzt auch dadurch, dass die Herausgeberin Anna Hartmann den Texten eine hervorragende und überaus hilfreiche Einführung in das Denken von Soiland voranstellt. Dem streitbaren Buch und seiner Autorin ist eine große Aufmerksamkeit zu wünschen. Nicht alle Leser*innen werden zustimmen, aber (vermutlich) alle werden – so oder so – einen veränderten Blick auf die spät-neoliberal-kapitalistische Postmoderne gewinnen und auf Veränderungsprozesse gestoßen werden, die ohne Soilands Theorieansatz unter der Oberfläche blieben.« – Andreas Hellgermann, kritisch-lesen.de, 11. April 2023

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