Tagebuch über ›Einen Westen hat es nie gegeben & Fragmente einer anarchistischen Anthropologie‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen Tagebuch über ›Einen Westen hat es nie gegeben & Fragmente einer anarchistischen Anthropologie‹


»Die Ablehnung von Hierarchien und staatlichen Institutionen, das gleichberechtigte Miteinander, die Betonung sozialer Praxis: Was den Anarchismus nach landläufiger Definition kennzeichnet, könnte durchaus so interpretiert werden, als stünde es mit dem Anspruch einer Wissenschaft in Widerstreit. Denn Wissenschaft produziert Spezialwissen, das per se nicht allen zugänglich und nicht unbedingt praktisch zu verwerten ist. Eine anarchistische Anthropologie könne es aber dennoch geben, argumentiert der Aktivist und Theoretiker David Graeber (1961–2020) in einem nun erschienenen Buch, das mehrere seiner Texte versammelt. Der Mitinitiator der Occupy-Wall-Street-Bewegung war selbst sowohl Anthropologe als auch Anarchist. Mit dem Bestseller Schulden. Die ersten 5000 Jahre (2011) zu einiger Bekanntheit gelangt, streitet Graeber im aktuellen Buch für die Vereinbarkeit von Anthropologie und anarchistischem Aktivismus. Die Anthropologie müsse aber, wolle sie anarchistisch sein, zwei Bedingungen erfüllen: Erstens bedürfe es der Grundannahme, dass eine andere Welt möglich, soziale Verhältnisse also grundlegend veränderbar seien (was allerdings jede kritische Theorie seit Marx für sich beansprucht und kein anarchistisches Alleinstellungsmerkmal ist). Zweitens müsse jeder Avantgardeanspruch zurückgewiesen und das Elitäre des Intellektualismus vermieden werden.

Gemeinsam sei Anarchismus und Anthropologie ein Interesse an ›alternativen Ethiken‹ sowie die Suche nach Praktiken der ›Gegenmacht‹. Graeber führt diese Suche im Buch auch immer wieder vor. Vor allem im abschließenden, längeren Text zeigt er auf, dass vor und jenseits der Entwicklung von Nationalstaaten und repräsentativer Demokratie an vielen Orten der Welt Räume der ›demokratischen Improvisation‹ existiert haben und dass diese bis heute mit Leben gefüllt werden. Als Gegenentwurf zur hegemonialen Behauptung, die ›westlichen Werte‹ erst hätten der Welt Glück und Segen gebracht, ist diese Analyse triftig und erhellend. Bei den sehr disparaten Beispielen, die meist von indigenen Gemeinden handeln und von Madagaskar bis Mexiko (hier besonders die Zapatistas) angesiedelt sind, muss man. sich allerdings auch fragen, was die viel gelobten ›egalitären Gemeinschaften‹ denn sind. Patriarchale Herrschaft etwa, die in vielen sogenannten traditionellen, nichtstaatlich organisierten Gesellschaften das Soziale mit totaler Kontrolle überzieht, wird bei Graeber überhaupt nicht analysiert. Das ›Fehlen staatlicher Macht‹ ist für ihn häufig bereits Ausweis von mehr Gleichberechtigung. Der Anarchismus beginnt für Graeber letztlich schon da, wo Menschen kooperativ miteinander umgehen. Warum wir dann immer noch unter kapitalistischen Bedingungen leben, warum sich die globalisierungskritische Bewegung nicht hat verstetigen können und wieso auch in nichtstaatlich organisierten Gemeinschaften sexistische Muster walten, all das lässt sich mit Graebers Ansatz nicht erklären. […]« – Jens Kastner, Tagebuch 2/2023

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