»Jens Kastner weist in seinem Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika auf eine große Leerstelle in westlichen Debatten um Dekolonialisierung hin: die praktische Abwesenheit Lateinamerikas, seiner antikolonialen Kämpfe und Theorie. Und das obwohl die Kolonisierung Amerikas nicht nur ein Nebeneffekt der westlich-kapitalistischen Moderne war, sondern eines ihrer konstituierenden Elemente ist. Die Sprachbarriere kann dabei ein erklärender Grund sein, wie Kastner feststellt. Sein Buch lässt sich deshalb auch als ein Übersetzungsversuch verstehen. Dass hiermit mehr gemeint ist, als nur die bestmögliche Entsprechung eines Wortes in einer anderen Sprache zu finden, macht er in seinem Exkurs zum ›pueblo‹ deutlich (auf Deutsch: ›Volk‹, ›Leute‹ und zugleich ›Dorf‹). Während ›el pueblo‹ eine ‹, positiv besetzte Bezugsgröße in Debatten der lateinamerikanischen Linken ist, ist ein solcher Bezug in Deutschland kaum denkbar. Entlang von sechs inhaltlichen Fragestellungen und zwei Exkursen (zum ›pueblo‹ und dem aktuellen Zapatismus) führt Kastner in die dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika ein. Dieser geht es dabei nicht nur darum, ›Folgen und Effekte des Kolonialismus zu beschreiben und zu verstehen‹, sondern ›selbst dekolonisierend [zu] wirken‹. Dieser Praxisbezug ist dabei das einende Element der Theorien. Zu jeder Fragestellung (beispielsweise der Bedeutung der Epistemologie oder des Feminismus) gibt Kastner sich teils aufeinander beziehende und sich manchmal gegenseitig kritisierende theoretische Positionen wieder. Darunter sind auch in Deutschland be-kanntere Namen, wie Enrique Dussel oder Boaventura de Sousa Santos, aber auch unbekanntere Theoretiker*innen wie der Marxist Jose Carlos Mariategui oder die Feministin Maria Lugones. Eine ›Einführung und Kritik‹ gelingt Kastner voll und ganz. Eine große Stärke ist seine stets als solche markierte und durchwegs berechtigte Kritik an vorhanden Problemen oder Inkonsistenzen mancher Ausprägungen dekolonialistischer Theorie. So kritisiert Kastner eine manchmal vorhandene antisemitische Schlagseite, wenn es um die Kritik der Modeme geht. Oder eine Tendenz der antiessenzialistisch auftretenden Theorien, außerakademische Praxis und marginalisierte Subjektivitäten als per se emanzipatorisch zu setzen. Theoretische Vorkenntnisse sind für die Lektüre dieses sehr lesenswerten Buchs nicht nötig. Als eine Einführung in spezifische Theorie richtet es sich dem Inhalt und der Form nach jedoch durchaus an ein akademisches Publikum.« – René Thannhäuser, iz3w #392, September/Oktober 2022
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