»Während Thilo Sarrazins erstes Buch („Deutschland schafft sich ab“, 2010) auf eine breite und mitunter unkritische Medienrezeption traf, macht es sich Andreas Kemper ausdrücklich zur Aufgabe, diesem Versäumnis mit einer zeitnahen und fundierten Kritik Sarrazins neuester Publikation („Der neue Tugendterror“, 2014) vorzubeugen. Zentral ist dabei der Kontext, in den Kemper Sarrazins Polemik gegen den neuen Tugendterror und die „Demagogie im Namen der Gleichheit“ (39) stellt. Sarrazins Inszenierung, sich selbst als den Fürsprecher der Meinungsfreiheit darzustellen, beruhe auf der Verkehrung, mit dem Kampfbegriff der Politischen Korrektheit all jene zu diffamieren, die eine Vorrangstellung von Primärtugenden vor spießbürgerlichen Sekundärtugenden verteidigten. Damit stehe Sarrazin in einer Reihe mit öffentlichen Intellektuellen, die derzeit implizit forderten, dass Toleranz auch Menschenverachtung und rassistische Ressentiments einschließen müsse. In diesen Versuchen, den politischen Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, verquickten sich derlei Gedankengebäude mit einer Ideologie der Korrektur von Bevölkerung und sozialem Körper, denn während diese „sich über die Politische Korrektheit und Empörungswellen empörten, besteht ihr Ziel in einer Korrektur des Politischen“ (64). So deckt Kemper eindringlich und gut recherchiert die Widersprüche in den Thesen Sarrazins und dessen Befürworter_innen auf und stellt diese in Zusammenhang mit einer langen Tradition der ›Korrektionsanstalten‹ (74). Im Übergang in die Disziplinargesellschaft (Foucault) habe sich eine gesellschaftliche Normierung herausgebildet, die sich selbst mit immer subtileren Formen der Korrektur verteidigt habe. Sowohl an diesen Diskurs als auch an eine bestimmte konservative Vision der tugendhaften Korrektheit finde Sarrazin direkt Anschluss. So entpuppe sich die Rebellion gegen die Political Correctness als ein Angriff auf gleichheitliche Vorstellungen per se, die an eine lange Tradition reaktionärer bis offen faschistischer Ideologien anschließen könne, aber auch als eine Entpolitisierungsstrategie. Dieser Zusammenhang nimmt Sarrazins Thesen zwar den Neuwert ihres Phänomens, sollte sie damit aber umso gefährlicher erscheinen lassen.«
Alexander Struwe, pw-portal, 03.07.2014