Exil, Diaspora und die aktuelle Migration – ein Sammelband untersucht Ursachen und Wechselwirkungen
VON GOTTFRIED OY, FR 17.5.2005
‘Was haben Turnschuhe aus China, Kapitalanlagemöglichkeiten in den Vereinigten Arabischen Emiraten und angespülte Leichen am Strand des andalusischen Surferparadieses Tarifa miteinander zu tun? Während Waren und Kapital schon lange keine Grenzen mehr kennen, werden sie für Menschen, etwa an den Außengrenzen der Festung Europa, immer unüberwindbarer. Auf der Suche nach einem besseren Leben begeben sich viele dennoch auf die Reise und müssen ums bloße Überleben kämpfen.
Die Migrationsforschung spricht von der Autonomie der Migration und versteht darunter, dass es überall auf der Welt trotz verstärkter Kontrollen ungezügelte, illegale Grenzübertritte gibt. Nun hat sich der Zirkel ‘Jour fixe Initiative Berlin’ des Exilanten als ‘exterritoriale Figur’, wie ihn Siegfried Kracauer in den dreißiger Jahren beschrieb, angenommen. Acht unterschiedliche Beiträge setzen sich mit dem Exil als populärkulturelle Projektionsfläche und als traumatische Erfahrung auseinander.
Den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin beispielsweise liest der französische Historiker Enzo Traverso als Chronik des Exils. Adorno ging, so Traverso, aufgrund seiner einigermaßen gesicherten Existenzgrundlage anders mit der NS-Machtergreifung um und wurde sich erst später des Ausmaßes der nationalsozialistischen Barbarei bewusst. Völlig naiv schlug er Benjamin vor, dem das Publikationsverbot die Existenzgrundlage nahm, sich doch in der Reichsschrifttumskammer eintragen zu lassen, um weiter publizieren zu können.
Das Abhängigkeitsgefühl Benjamins gegenüber Adorno, der sich für die materielle Unterstützung des Exilanten einsetzte, beeinflusste die Freundschaft so weit, dass aus dem einstmals freien Austausch und der offenen gegenseitigen Kritik ein einseitiges Verhältnis wurde, wie Benjamins unkritische Zustimmung zu Adornos Jazz-Rezeption zeige: ‘In seinen Briefen wagte es Benjamin nicht mehr, Adorno zu kritisieren.’
Adorno und die Rolling Stones
Eine völlig andere Form des Exils, frei von jeglicher existenziellen Bedrohung, erlebten fünf junge Popkulturschaffende zur Jahrzehntwende 1969/70. Auf der Flucht vor Steuer- und Drogenbehörden ließen sich die Rolling Stones in Südfrankreich nieder und nahmen das Album Exile on Main Street auf. Der Publizist Michael Koltan spürt der metaphorischen Bedeutung dieses Albums nach, verfängt sich allerdings in Fan-Perspektive in einer allzu getreuen Werkschau, die wenig Raum für kritische Fragen lässt. Nicht nur Intellektuelle und Künstler, auch exilierte Politiker reflektieren im erzwungenen Abstand zum Tagesgeschäft ihre eigenen Grundlagen. Wenn das Exil auch äußerst ungünstige Rahmenbedingungen setzt, kann dieser Reflexionsprozess durchaus produktiv sein, wie der Historiker Jörg Später in seinem Beitrag über Weimarer Sozialdemokraten in London zeigt. Er beschäftigt sich mit den Lebenswegen von Otto Lehmann-Rußbüldt, Karl Retzlaw und Hans Jäger, drei wichtigen parteiinternen Kritikern der Exil-Sozialdemokratie, und ihrer These vom ‘anderen Deutschland’.
Nazi-Deutschland militärisch zu besiegen und geistig zu erneuern war der kleinste gemeinsame Nenner vieler Exilanten, so auch der etwa 100 Personen umfassenden sozialdemokratischen Community in London. Die Kritiker unterschieden sich von der Parteiführung in ihrem Glauben, zur geistigen Erneuerung gehöre auch eine Selbstkritik des vermeintlich anderen, besseren Deutschlands. Sie gingen davon aus, dass Hitler sich einer breiten Unterstützung der Bürger sicher sein könne und der Volksbegriff der Linksparteien revidiert werden müsse. Eine Einschätzung, die sich damals nicht durchsetzen konnte und selbst heute noch Anfeindungen ausgesetzt ist.
Um eine Überleitung zu aktuellen Fragen von Migration, Exil und Diaspora ist schließlich die Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodriguez bemüht, obwohl auch sie historisch weit ausholt. Gerade die jüdische und schwarz-westafrikanische Diaspora, weltweit die zentralen Achsen politischer Vertreibung, ‘verweisen auf Spuren europäischer Geschichte’: Antisemitismus und Kolonialismus sind ureigene europäische Geschöpfe. Die strukturelle Gewalt, die in diesen Ideologien aufgehoben ist, ist bis heute zu spüren und wird in der aktuellen Abschottungspolitik des reichen Nordens vom armen Süden reaktiviert.
Statt einseitig die diversen Fundamentalismen des Südens zu kritisieren, sollte das Hauptaugenmerk auf den Wechselwirkungen zwischen europäischem Vormachtstreben und dem Befreiungsnationalismus ehemals kolonial beherrschter Regionen liegen. So unschuldig und friedensliebend, wie sich die Europäer gerne geben, sind sie keineswegs: Nicht nur die Flüchtlinge, die in europäischen Hoheitsgewässern aufgegriffen werden, bekommen das zu spüren.’