»Solidarität ist in aller Munde: Eingefordert, proklamiert, postuliert und getwittert wird der Begriff jedenfalls auf inflationäre Weise – und dies umso mehr, als Regierungen ihn zur Durchsetzung der Maßnahmen der Pandemiebekämpfung für sich entdeckten. Den meisten Linken muss dies wahrscheinlich nicht erklärt werden – denn sie haben von sich aus ein Bedürfnis nach solidarischem Handeln. Das unterscheidet sie von jenen Menschen, deren postfaktisches, Ressentiment geladenes und oft esoterisches Weltbild eine eminent anti-moderne Reaktion auf emanzipatorische Errungenschaften darstellt.
Zugleich kann man sich fragen, ab welchem Punkt die Selbstvergewisserung, solidarisch zu sein, nicht in problematischen Gehorsam umschlägt. Denken wir etwa an die fatale Bewilligung der Kredite für den Kriegseintritt des Deutschen Reichs durch die Sozialdemokratie. Auch hinsichtlich der ›internationalen Solidarität‹ können sich Widersprüche und Probleme auftun. Etwa, wenn sozial-revolutionäre Guerilla-Gruppen mafiöse Strukturen annehmen; gleich denen, die sie bekämpfen. Schließlich sollten sich Linke die Frage stellen, inwiefern sie das, was sie groß auf ihre Banner schreiben, selbst praktizieren können. Oder ob die Anrufung von Solidarität nicht gelegentlich bedeutet, Schritte von anderen einzufordern, die man selbst nicht zu tun bereit ist.
Ein wichtiger Sammelband zur richtigen Zeit
Dies sind nur einige wenige Beispiele für die Bedeutung des Solidaritätsbegriffs, der weiterhin diskutiert werden muss. Doch was verstehen wir überhaupt unter Solidarität? Lea Susemichel und Jens Kastner gaben zu dieser Frage im Sommer 2021 einen Sammelband heraus, in dem sie 15 Beiträge verschiedener Autor*innen mit intersektionaler Herangehensweise versammeln. Um den linken Solidaritätsbegriff zu unterfüttern, beziehen sich Susemichel und Kastner in ihrem einleitenden Beitrag auf das Konzept der groundless solidarity, wie es die feministischen Denkerin Diane Elam entwickelte. Im Wesentlichen betonen sie damit, dass Solidarität anhand von Differenzen entsteht. Aus diesem Grund sind weder die gegenseitige Unterstützung von Mitgliedern einer homogenen Gemeinschaft, noch paternalistische Wohltätigkeit oder sozialstaatliche Verwaltung von Armut oder diskriminierten Gruppen als solidarisch zu begreifen. Vielmehr wird Solidarität in Anerkennung der Unterschiedlichkeit möglich und stellt dennoch einen reziproken Prozess dar; einen Prozess, welcher Veränderungen bei den jeweils Beteiligten bewirkt. Solidarität ist demnach nicht hauptsächlich als Entscheidung für ein bestimmtes Handeln zu begreifen, sondern als eine Grundhaltung, mit der man einer anderen Person begegnen will. Haltungen oder Einstellungen von Personen können nicht als abstrakte Lippenbekenntnisse stehen bleiben, wo sie selbst erfahren und verinnerlicht wurden. Daher gilt es, praktisch solidarisch zu werden und sich selbst in einer Verbundenheit mit den anderen zu begreifen.
Echte Solidarität sprengt damit die Grenzen derjenigen Herrschaftsordnungen, die Menschen auferlegt werden und trennen. Doch dies geschieht nicht durch harmonisches ›Gutmenschentum‹, sondern gerade durch Konflikt und Auseinandersetzung. Darüber hinaus soll mit dem von Kastner und Susemichel beschriebenen Solidaritätsbegriff die problematische Abspaltung von Emotionalität aufgehoben werden, welche – allen Rationalisierungen zum Trotz – ja der Ausgangspunkt dafür ist, gesellschaftliche Verhältnisse verändern zu wollen. Als ›Kampfsolidarität‹ richtet sie sich nicht nur gegen den gemeinsamen Gegner, um eine kämpfende Bewegung zusammenzuschweißen, sondern ebenso nach innen, um die eigenen Ansprüche umzusetzen und immer weiterzuentwickeln. Daran anschließend, ließe sich ergänzen, dass Solidarität ›präfigurativ‹ ist: Mit ihr wird also die angestrebte alternative Gesellschaftsordnung – nennen wir sie Sozialismus von unten – bereits vorweggenommen und experimentell verwirklicht.
Die Bedeutung des Solidaritätsbegriffs
Wie erwähnt, ist es unter aktuellen Bedingungen enorm wichtig, dass Menschen, die in linken Bewegungen aktiv sind oder mit ihnen sympathisieren, über ihre Grundbegriffe nachdenken. Die Debatte über den Solidaritätsbegriff zielt letztlich auf die Frage ab, wie, in einer heterogenen und sich rasend schnell wandelnden Gesellschaft, emanzipatorische soziale Bewegungen entwickelt werden können, die pluralistisch, offen und schlagkräftig zugleich sind. Kontroversen, Konflikte und Streits sind unabdingbar, um ein sozial-revolutionäres Kollektivsubjekt zu formieren. Die entscheidende Frage ist aber, ob diese vor allem geführt werden, um sich seiner eigenen Identität zu versichern und den Führungsanspruch von bestimmten Gruppierungen zu bekräftigen, welche bereit sind, dominant Macht auszuüben. Oder, ob sie darauf abzielen, in der Vielfältigkeit Gemeinsames herzustellen. Solidarität kann eine Chiffre für das Bestreben sein, Spannungen auszuhalten und gemeinsam revolutionäre Projekte zu entwickeln. Dies gilt insbesondere in Zeiten, in denen sich ein liberaler Individualismus tiefer in den Menschen verankert hat als je zuvor; während zunehmend bewusst ist, dass eine umfassende Gesellschaftstransformation im Gange ist. Ob sie allerdings emanzipatorischen Anliegen gerecht wird, ist eine offene Frage. Auf sie eine Antwort zu suchen, setzt voraus, sich aufeinander beziehen und miteinander kooperieren zu können. Dies verlangt allerdings ebenso, die eigenen Grenzen klar zu haben. Denn aus den Feldern von Klimagerechtigkeit, Antirassismus, Feminismus, Alternativökonomie oder Gewerkschaftsarbeit werden dahingehend bereits gute Anregungen formuliert.« – Jonathan Eibisch, kritisch-lesen.de, 12. April 2022