»Im Jahr 1971 erschien das Buch Las venas abiertas de América Latina von Eduardo Galeano. Bereits im folgenden Jahr brachte der Wuppertaler Peter Hammer Verlag Die offenen Adern Lateinamerikas in deutscher Übersetzung heraus, 1973 wurde eine englischsprachige Ausgabe veröffentlicht. Galeano beschreibt darin, wie sich seit der Kolonialzeit die imperialen Mächte Europas, später vor allem die USA, die Reichtümer Lateinamerikas angeeignet und damit ihren industriellen Aufstieg finanziert haben. Daran änderte auch die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken nichts. Sie waren weiterhin Rohstofflieferanten, ihre Eliten waren für Galeano lediglich Komplizen bei der Ausbeutung ihrer Länder durch Unternehmen aus den Metropolen. Auf der Strecke blieben Millionen und Abermillionen Indigener und afroamerikanischer Sklav*innen, die sich in den Minen und auf den Plantagen zu Tode schuften mussten. Das Buch wurde zu einem Standardwerk und prägte eine ganze Generation politisch aktiver Menschen in Latein-amerika, aber auch weltweit.[…]
2020, veröffentlichte der in Spanien lebende britische Journalist Andy Robinson in Barcelona Oro, Petróleo y Aguacates. Las nuevas venas abiertas de America Latina. Die englische und die deutsche Ausgabe (Gold, Ölund Avocados. Die neuen offenen Adern Lateinamerika) erschienen 2021. Robinson, der sich nicht nur im Titel, sondern auch im Text immer wieder auf Galeano bezieht, berichtet in 16 Beispielen über die gegenwärtige Struktur der Ausbeutung lateinamerikanischer Rohstoffe durch vorwiegend internationale Unternehmen (vgl. die Besprechung von Alix Arnold in der ila 439). Robinson zeigt, dass die Menschen in den Regionen, in denen die Mineralien und Agrarprodukte gefördert oder angebaut werden, kaum etwas davon haben – im Gegenteil werden vielerorts ihre Umgebung und häufig auch Lebensgrundlagen zerstört, etwa durch die Verseuchung von Böden und Gewässern oder deren Austrocknung. Diejenigen, die sich dagegen wehren, leben gefährlich. Von den Unternehmen angeheuerte Security-Leute, sprich Schlägertrupps und Auftragsmörder, sowie staatliche Sicherheitskräfte haben die Vertreter*innen renitenter Dorfgemeinschaften und Umweltschützer*innen im Visier. Manche der bei Robinson beschriebenen Produkte wie Gold, Eisenerz, Erdöl und Bananen sind auch Thema bei Galeano, andere wie Lithium, Avocados, Soja oder Quinoa wurden erst in den letzten Jahrzehnten zu begehrten Waren auf den Weltmärkten. […]
Eduardo Galeano und Andy Robinson haben gezeigt, dass auf den Export von Primärgütern setzende Modelle keine Perspektive für Lateinamerika bieten können. Die Schwäche der ökosozialen Kritik am Extraktivismus besteht indessen darin, dass sie zwar richtig ist, aber kaum gesellschaftlich tragfähige Alternativen aufzeigt. Bis heute produzieren die oft unter prekärsten Bedingungen lebenden und arbeitenden Kleinbauern und -bäuerinnen den Großteil der in Lateinamerika konsumierten Nahrungsmittel. Die Förderung einer ökologischen, bäuerlichen oder genossenschaftlich betriebenen Landwirtschaft wäre sicherlich ein wichtiges Element, um die Lebensbedingungen in den ländlichen Regionen zu verbessern. Die linken Regierungen haben mit ihrer einseitigen Förderung der großen Agroexportbetriebe diesen Sektor sträflich vernachlässigt. […]« – Gert Eisenbürger, ila: Das Lateinamerika-Magazin 454, April 2022