Rezension:
‘Schmerzliche Geschichte
Noch bis in die Mitte der 1970er Jahre war die „russische Frage“ das unausweichliche Paradigma der politischen Perspektiven der Linken. 15 Jahre später, nach dem Zusammenbruch des aus der Oktoberrevolution 1917 entstandenen so genannten Realsozialismus, mutet dieses wie älteste Vorgeschichte an. Das von Fukujama proklamierte Ende der Geschichte scheint auch für viele Linke zu gelten: Eine Auseinandersetzung mit ihrer Historie, gerade mit der Geschichte Sowjetrusslands, wird entweder völlig gemieden oder sie erfolgt unkritisch. Gegen beide Strömungen argumentiert Bini Adamczak. Erstere nennt sie Kommunisten der Gegenwart. Ihnen zu eigen ist ein Rhetorik des Bruchs mit der Vergangenheit, die sie freilich zumeist nicht einmal kennen. Auf diese Weise bestätigen sie gerade Fukujamas These, „weil für sie die Geschichte der Sowjetunion beendet ist“, sie geht sie nichts mehr an. Doch „die vergangenen Kämpfe um die Zukunft zu begraben, bedeutet unter den fortwirkenden Bedingungen der Niederlage nichts anderes als die Zukunft selbst, eine andere Zukunft zu begraben.“ (25)
Diejenigen, die sich noch heute positiv auf die SU beziehen, nennt die Verfasserin Kommunistinnen der Vergangenheit. Jene nehmen die zeitweise siegreiche Vergangenheit gegen Angriffe der siegreichen Gegenwart in Schutz. „Sie nehmen Partei auf Seiten jener Partei, die ihre eigenen Trägerinnen liquidierte …“ (24f.)
Eine Aufarbeitung der kommunistischen Geschichte hat laut Adamczak infolgedessen noch nicht begonnen (womit sie m.E. im Wesentlichen Recht hat, wenngleich sie gewisse Bemühungen ignoriert, die gerade von „Kommunisten der Vergangenheit“ erfolgten – siehe etwa Wolfgang Ruges Aufarbeitung des Stalinismus).
Diese Aufarbeitung bedeutet aber nichts anderes als „schmerzliche Arbeit über die und an der Geschichte“ (26). Nichts anderes verfolgt die Autorin in ihrem Essay – der Maxime folgend: „Wer vom Stalinismus nicht reden will, sollte vom Kommunismus schweigen. Aber was kann vom Stalinismus sagen, wer vom Kommunismus nichts hören will?“ (79) Die Intention also ist klar: Es geht darum, die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und gerade nicht das Bild von der Zukunft – die klassenlose Gesellschaft –, für die die Kommunistinnen eintraten. Vorliegende Veröffentlichung knüpft insofern an Adamczaks voriges Buch „Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird“ an, welches sich nach einem gescheiterten wissenschaftlichen Schreibversuch über das Marxsche Kommunismusbild der Perspektive eines Kindes bediente, um ein Bild vom Kommunismus zu skizzieren. „Gestern morgen“ möchte, wie die Verfasserin in einem Interview aussagte, das utopische Begehren aufrecht erhalten, in dem sie einen Gang durch die Geschichte unternimmt, das Scheitern noch einmal versucht, nachzuvollziehen und somit Trauerarbeit leistet. Denn das Bild des Kommunismus ist nicht nur verstellt durch 1989, sondern auch durch 1939, 1937 und 1921.
Wesentliche Motivation des Essays ist es mithin, den Punkt zu finden, wo die Möglichkeit des Scheiterns der Revolution den Punkt des Gelingens überwiegt. Dies geschieht chronologisch rückwärtsgehend und weniger auf historische Analysen gestützt denn auf autobiografische Zeugnisse von KommunistInnen. Begonnen wird im Jahr 1939 mit der Auslieferung von vor den faschistischen Häschern in die SU geflohenen deutschen und österreichischen Kommunisten an die deutschen Nazis. Hier endet der Verfasserin zufolge der „unaufhaltsame Fortschritt, der die Geschichte in den Kommunismus hätte führen sollen.“ (18) Natürlich stand dieser Vorgang mit den Ereignissen des Hitler-Stalin Paktes in Zusammenhang. Adamczak diskutiert diesen innerhalb der Pole „moralisch widerwärtig, aber politisch notwendig“ und Verrat des antifaschistischen Internationalismus der III. Internationale an den Sicherheitsnationalismus der Stalinschen Außenpolitik (34). Das Tragische freilich ist: Die SU exportierte weiterhin Waren an das faschistische Deutschland, sodass das militärische Verhältnis sich 1941 weiter zuungunsten Sowjetrusslands entwickelt hatte (eine Sichtweise die unlängst auch von Adam Tooze Unterstützung fand).
Ein weiterer Abschnitt ist dem Großen Terror 1937 gewidmet. Adamczak arbeitet heraus, dass nicht nur die hohe Zahl der Opfer das Erschreckende ist, sondern auch die Abwesenheit jeglicher Rationalität. Denn: „In ihrer Irrationalität unterläuft sie noch die klassische Logik des Terrors selbst, denn welchen Sinn sollte die Produktion allgemeiner, gesellschaftlicher Angst haben, wenn selbst die restlose Überantwortung an die Autorität, selbst die reinste Identität stalinistischer Identifizierung keine Sicherheit verschafft?“ (53)
Weiter zurückgehend behandelt Adamczak überdies die stalinistischen Schauprozesse, den Monopolanspruch der Bolschewiki, die Niederschlagung des Matrosenaufstandes von Kronstadt und die damit einhergehende Entmachtung der Arbeiterräte 1921 sowie den Tod Lenins im Januar 1924.
Aus der Diskussion dieser Stationen schließt sie, dass heute die Zukunft nicht mehr in Momenten der Gegenwart, die über diese hinausweisen, gefunden werden kann. „Es gibt keinen Kommunismus in Latenz, keine neue Gesellschaft, die in der alten schon schläft.“ (106) Zuvorderst müsse die Zukunft aus den Momenten der Vergangenheit gelöst werden, in denen sie stecken geblieben sei. „Ohne den Gang durch die Geschichte der revolutionären Versuche wird es keine revolutionäre Versuchung mehr geben.“ (121)
Die zentrale Frage, wenn man sich mit der Geschichte der Sowjetunion Stalins beschäftigt, ist, wann die Zweck-Mittel-Relation umschlägt, wann also der Zweck – Aufbau des Sozialismus – hinter den Mitteln – Gewalt, Repression etc. – verlustig geht. Adamczak neigt zunächst zu der Ansicht, dass dieser Punkt schon relativ früh eingetreten sei, wenn sie folgende – ausdrücklich nicht rhetorisch gemeinte – Frage stellt: „Wäre es da nicht besser gewesen, die Revolutionäre hätten vor der herannahenden Konterrevolution frühzeitig kapituliert? Hätten sie, ohne auf Gnade zu hoffen, nicht ihre Waffen strecken müssen, ihre Leben abgeben, aber ihre Moral behalten? Hätten die Kommunisten ihren nachfolgenden Genossinnen nicht mehr genutzt, wären sie als zu betrauernde Opfer in die Geschichte eingegangen?“ (149). Nicht rhetorisch gemeint sei diese Frage, weil sie sich für Allende 1973 real gestellt habe. Er habe gewusst, dass er den Bürgerkrieg gewinnen konnte, nicht aber den Sozialismus danach.
In diesen beiden geschichtlichen Situationen habe sich die Alternative als Aporie dargestellt, als unauflösbarer Widerspruch. Doch gegen das vermeintliche Fazit, die Resignation, wendet Adamczak ein: Auf dem Terrain der Geschichte gebe es kein Gesetz, welches länger gültig sei als bis eben heute (150).
Essays haben es an sich, auf definitive Antworten zu verzichten, sie beweisen den Mut zur Lücke und provozieren mit Zuspitzungen. So auch „Gestern Morgen“. Dafür werfen sie Fragen auf, die bislang unzureichend behandelt worden sind. Voll und ganz gilt dies auch für Adamczaks Versuch über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster. Er ist gänzlich unzeitgemäß und gerade deshalb so notwendig.’
Guido Speckmann in: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Heft 74, Juni 2008, 19. Jhrg.