»Gründe, wütend zu sein, gibt es derzeit ohne Ende. Und diese emotionale Verstimmung spiegelt sich auch in den öffentlichen Diskursen wider, wo der Ton ungeduldiger wird – und die Beantwortung der Frage, wie man da wohl wieder raus kommt, immer schwerer vorstellbar. Wohltuend kommt da ein gar nicht so dickes Bändchen des schon des Öfteren
an dieser Stelle gelobten linken Unrast Verlags daher, der zwar den herausfordernden Zusatz ›Bücher der Kritik‹ trägt,
unter Kritik aber immer wieder eine intensive sachliche Auseinandersetzung versteht. In Klassen sehen ist die Kritik sogar
ausgesprochen akademisch, was der Verständlichkeit aber nicht allzu viel Abbruch tut. Und dem Inhalt des von dem Film und Politiktheoretiker Drehli Robnik herausgegebenen Büchleins sowieso nicht – den verschiedenen Annäherungen an Klassenverhältnisse tut es ganz gut, mit historischen und internationalen Bezügen illustriert zu werden. […] Ein vergleichbar intersektioneller Ansatz für den Klassenbegriff ist das, was die verschiedenen Kapitel von Klassen sehen eint und den Kern des Buches ausmacht: Die Philosophin Ruth Sonderegger etwa leitet her, dass sich ›Klasse‹ schon bei Marx nicht als sozialstrukturelle Gegebenheit definiert, sondern als etwas, das sich erst in ›Kämpfen gegen die Beherrschung‹ entwickle. Damit schließt ›Klasse‹ viel mehr ein als die orthodox linke (auch noch vorwiegend männliche) Arbeiterklasse oder bestimmte Lohngruppen – nämlich alle, die die kapitalistische Vergesellschaftungs- und Lebensform begrenzt, ausbeutet, ausschließt – kurz: hierarchisiert oder eben klassifiziert und so beherrscht. Hier treffen sich ökonomisch Prekarisierte, von Rassismus Betroffene, wegen ihres Geschlechts, Alters oder einer Behinderung Diskriminierte. Spannend, wie die so beschriebene ›Klasse‹ in den Beiträgen mal mehr, mal weniger durchschimmert – im ›Klassenkampf‹, als ›Selektionsoperator‹, als ›Scham des Proletariats oder der Kleinbürgerin‹ – und dabei doch nie ganz greifbar wird. Klassen sehen hilft genau dabei: Klassen zu sehen. Es stellt die Frage, wie tragend Zuteilungen und Aufteilungen für
das herrschende System sind – und öffnet soziale und diskursive Denkräume über solidarische Verbündungsmöglichkeiten.
Das fühlt sich nach Ermächtigung an, nach Handlungsspielraum, nach Perspektive. Und das kann in diesen Zeiten ganz ungemein aufbauend sein.« – Beate Wilms, taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik, Heft 17, 8. Juni 2021