»Mit Politik und Postmoderne hat Jens Kastner einen ersten Beitrag für eine längst überfällige Auseinandersetzung mit dem postmodernen Denken aus anarchistischer Perspektive geleistet. Die Arbeit ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, daß sich der klassische Anarchismus durch seine HauptvertreterInnen stark an den Idealen der Aufklärung orientiert. Das Ziel, der nun von Unrast veröffentlichten Dissertation von Jens Kastner ist es, die libertären Aspekte in der Soziologie von Zygmunt Bauman herauszuarbeiten. Die bekanntesten Bücher von Zygmunt Bauman dürften wohl ›Dialektik der Moderne. Die Moderne und der Holocaust‹ und ›Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit‹ sein.
Postmoderne ist für Baumann sowohl seine eigene Diagnose der Gegenwartsgesellschaften als auch der theoretische Stadtpunkt, von dem aus er diese samt ihrer Vergangenheit bewertet. Die postmoderne Auffassung von der Welt beinhaltet die ›Auflösung der Objektivität‹, daß heißt die Grundannahmen, die für die moderne Gesellschaften konstituierend waren, nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, weil ihr Scheitern zu offensichtlich wurde. Für Bauman stellt sich deshalb auch die Frage nach einer Soziologie nach dem Holocaust. Für Kastner sind folgende Phänomene an der Postmoderne libertär: essenzfrei/substanzlos, kontingent und selbstbestimmt.
Für Bauman ist das Wesensmerkmal der Moderne die Schaffung von Ordnung, diese Ordnung bringt zwangsläufig auch Ambivalenz hervor, die aber eigentlich durch die Moderne aufgehoben werden sollte. Durch Ein- und Ausschlußhandlungen sollen diese Ambivalenzen bekämpft werden. Die Postmoderne ist eine Reflexion der Moderne, die die Grundannahmen und das Ordnungsraster der Moderne grundsätzlich und radikal in Frage stellt. Die moderne Ordnung gerät aus den Fugen. Kastner stellt jetzt die Analyse und Konsequenzen von Bau-man an verschiedene Fragestellungen dar: die Kritik Baumans am Nationalstaat, seine Analysen und Auffassungen zu Rassismus (das Thema des Fremden), Postmoderne und Subjekt und die Frage nach einer ›postmodernen Ethik‹, der sich die Frage nach einer ›postmodernen Politik‹ anschließt. Wobei Kastner nicht bei Bauman stehen bleibt, sondern dann wenn seine Analysen und Auffassungen zu kurz greifen, greift Kastner auf Foucault und poststrukturalistische Ansätze des Feminismus und des ›Postkolonialismus‹ (Homi K. Bhabba, Stuart Hall) zurück.
Wenn sich die Moderne dadurch auszeichnet, Ordnung zu schaffen, kann sie Ambivalenzen nicht dulden, dazu gehört auch derdiedas Fremde. Bei Bauman sind Fremde ›Zurückgestoßene, die ihr Recht auf Selbstkonstitution, Selbstdefinition und Selbstidentität aufgegeben haben und sich der konstituierenden Sichtweise anderer unterwerfen‹. Sie stellen eine Bedrohung für die modernen Gesellschaften dar und werden letztendlich zum ›tödlichen Gift der Moderne‹ (Bauman). Die gesellschaftliche Reaktion auf derdiedas Fremde bezeichnet Bauman mit den Phänomen Heterophobie, Fremdenhaß und Rassismus. Heterophobie ist laut Bauman eine Reaktionsform auf die Anwesenheit des oder der Fremden. Sie ›ist die rationale und irrationale Objektivierung von Angstgefühlen, die in Situationen entstehen, in derdiedas Fremde nicht verstanden wird, keine Kommunikation mit ihm und ihr möglich scheint und ein vertrautes Verhältnis außerhalb der Vorstellungskraft liegt‹. Im Gegensatz zu Fremdenhaß und Rassismus ist die Heterophobie kein speziell modernes Phänomen. Der Fremdenhaß setzt da an, wo die Unterscheidung von vertrauter und fremder Lebensweise nicht mehr gelingt, der Fremdenhaß setzt den ›Feind mitten unter uns‹ voraus. Rassismus ist bei Bauman verknüpft mit der modernen Wissenschaft und Technologien und an einem politisch-institutionellen Rahmen geknüpft. Die alltagsweltlichen Phänomene Heterophobie/Fremdenhaß werden von Bauman strikt von Rassismus als institutionelles Phänomen getrennt. Doch diese Trennungen und teilweise auch Verkürzungen greifen zu kurz, da ›er die und den einzelnen tendenziell freispricht vom Rassismus‹. Zum anderen blendet Bauman einen zentralen Strang des Rassismus aus: den Kolonialismus. Neben derdiedas Fremde im Inneren gibt es auch noch derdiedas Fremde in der Ferne. Um diese Lücke zu schließen, greift Kastner auf den Ansatz von Stuart Hall zu. Hall untersucht mit dem Diskursbegriff von Foucault die Hauptthemen und Repräsentationsstrategien der Diskurse über ›den Anderen‹.
Ein weiteres Problem im Ansatz von Bauman sehe ich die ›Erfindung eines moralischen Selbst‹. Bauman behauptet in seinem Buch ›Postmoderne Ethik‹: ›es gibt aber kein Selbst vor dem moralischen Selbst‹. Daraus ergibt sich für Bauman: ›Wir sind nicht moralisch dank der Gesellschaft (…); wir sind Gesellschaft dank unseres Moralisch-seins‹. Nach Bauman ist an der Moral postmodern, das sie nicht universalisierbar ist, denn wäre sie es, wäre es keine Moral mehr, sondern eine Ethik. Der positive Rückgriff auf die ›Moral‹ ist aber problematisch – wie Kastner zurecht bemerkt – ›weil Moral einerseits Allgemeingültigkeit impliziert (und ansonsten sinnlos wäre), sich aber anderseits als historisch und sozial relativ erwiesen‹ haben. Gerade dieser anscheinende Widerspruch macht aus der Moral ein Instrument die Menschen zu beherrschen ohne im jedem Fall diese mit Repression durchsetzen zu müssen, den laut Foucault gibt es keine ›einzelne moralische Handlung, die sich nicht auf die Einheit einer moralischen Lebensführung bezieht; keine moralische Lebensführung, die nicht die Konstitution als Moralsubjekt erfordert; und keine Konstitution des Moralsubjekts ohne ‘Subjektivierungsweisen‘ und ‘Asketik‘ oder ‘Selbstpraktiken‘, die sie stützen‹. Deshalb ist problematisch sich auf das ›moralische Selbst‹ zu beziehen, das gleiche gilt meiner Meinung nach auch für eine anarchistische Moral, die Kastner darstellt. Gerade wenn es um eine freie Individualität und Subjektivität von Menschen geht, ist Foucaults ›Ethik als Lebenskunst‹ interessanter als das ›moralische Selbst‹ von Bauman. ‹In einer Ethik als Lebenskunst kommt es darauf an, sich gegen eine Macht zu kehren, die es darauf abgesehen hat, die Individuen den herrschenden Normen und Konventionen anzugleichen und die Form der Existenz zu normieren. Gegen die Norm steht die Form, die das Individuum sich selbst gibt. Sie setzt an bei den aktuellen Verhältnissen, geht aus diesen hervor und wirkt auf diese zurück‹. Es geht um Anarchie als Selbstverhältnis und darum einen neuen Menschen zu entdecken: ›Jeder in sich selbst‹ (Gustav Landauer).
Zum Schluß geht Kastner der Frage nach der Soziologie im postmodernen Zeitalter nach, die erkennt, daß ihre Grundlagen kontingent sind. Dies steht im Widerspruch zur Rolle der Soziologie im klassischen Anarchismus. Für Bakunin war die Soziologie die ›Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen, die in allen Entwicklungen der menschlichen Gesellschaft wirksam sind‹. Eine Frage bleibt aber noch offen: Kann es eine anarchistische/libertäre Soziologie geben? Es bleibt aber zu hoffen, daß die notwendige Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen und postmodernen Theorien aus einer anarchistischen/libertären Perspektive, die von Kastner eröffnet wurde, auch fortgesetzt wird, damit der Anarchismus in 21. Jahrhundert nicht nur für HistorikerInnen vor Interesse ist.« – Jürgen Mümken, direkte aktion 144, April/Mai 2001