Passt der Klassenkampf noch zur Renaissance der sozialen Frage? Ein Sammelband fragt nach
Von Gottfried Oy, ND 18.8.2006
‘Für die alte Arbeiterbewegung war noch alles klar: Um gegen Ausbeutung zu kämpfen, wurde für kürzere Arbeitszeit und höheren Lohn gestritten. Je mehr vom großen Kuchen abfiel, umso besser. Das führte jenseits des Realsozialismus in den Wohlfahrtsstaat westeuropäischer Prägung. Historische Kompromisse zwischen Bürgertum, Gewerkschaften und Arbeiterparteien wurden unter dem Banner des »Wohlstands für Alle« qua Fortschritt geschlossen.
Kehrseite des Ganzen: rigide Geschlechterrollen, rücksichtslose Umweltzerstörung wie einengende und bevormundende Lebensverhältnisse. Dissidente linkssozialistische Intellektuelle der Nachkriegszeit waren es, die den Kampf gegen Entfremdung in den Mittelpunkt stellten: Fragen nach dem Alltag, der Lebensgestaltung, der Normierung von Lebensläufen, der Subjektivität und dem Raubbau an äußerer und innerer Natur wurden zentral.
Heute häufen sich indes wieder die Überlegungen, wie in Zeiten der Renaissance der sozialen Frage an das Konzept Klassenkampf angeknüpft werden kann, ohne in Arbeiterromantizismus zu verfallen. »Klassen und Kämpfe«, ein Sammelband der »jour fix initiative berlin«, enthält hier wichtige Anregungen – wohl nicht zufällig maßgeblich historischer Natur.
So ist etwa Elfriede Müllers Blick auf den Mai 68 in Frankreich durchaus geschichtspolitisch zu verstehen. Es geht ihr insbesondere um die Rolle der KP, die keinen Umgang mit der Koalition zwischen jungen Intellektuellen, Jungarbeitern und Lehrlingen fand, die sich Ende der Sechziger in der Suche nach dem würdigeren und besseren Leben zusammenfanden. Der Mai 68 wurde schließlich zum Anfang vom Ende der PCF: »Von nun an wird sich das Denken von Widerstand nicht mehr normativ auf eine soziale Klasse und ihre historische Mission beschränken.« Was bis heute bleibt, ist das uneingelöste Versprechen von Befreiung und Emanzipation, das zumindest den Blick auf das »desintegrierte und beschädigte Ich« möglich gemacht hat.
Die Rede über den Klassenkampf ist allerdings keine rein akademische Diskussion, wie Klaus Viehmann betont, weil sich immer auch die Frage der Gewaltanwendung stellt. Er lässt noch einmal sozialrevolutionäre Ansätze in der Stadtguerilla Revue passieren und unterscheidet dabei zwischen einem stumpfen Antiimperialismus, der nur noch zu befreiende Völker kennt, und differenzierenden Bezügen auf den »Massenarbeiter« und die Klassenfrage.
Dass es im Klassenkampf auch um Rassismus geht, darauf weißt Manuela Bojadijew hin. Gerade jenseits der Kernbelegschaften sind es Migranten, denen eine gesonderte Rolle zukommt. Sie formuliert das Konzept der Autonomie der Migration: »Für eine historische Analyse des migrantischen Widerstands muss ein Verständnis von Rassismus entwickelt werden, dessen Grundlage die Kämpfe gegen Rassismus und nicht die durch den Rassismus produzierten Subjekte darstellen.«
Wenn nun das Widerständige nicht mehr an einer Klasse festgemacht werden kann, stellt sich umso mehr die Frage nach den Möglichkeiten politischer Organisierung im Zeitalter zunehmender Prekarisierung. Mag Wompel beobachtet bei den Hartz-IV-Protesten, dass der größte Hemmschuh immer wieder das breit akzeptierte Leistungsprinzip, die Lohnabhängigkeit als einzig denkbare Quelle der Existenzsicherung und ein allgemein geteilter Arbeitsethos nicht nur innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie, sondern auch bei den Betroffenen selbst ist.
Die »blanke Existenzangst« erhöht sogar noch die Fixierung auf Lohnarbeit, statt sie in Frage zu stellen. Auch hier zeigt sich die mangelnde Präsenz historischer Kämpfe im kollektiven Gedächtnis. Solange die Geschichte allein von den Siegern geschrieben wird, kann sich daran auch nicht viel ändern.’