junge Welt über ›Zeit abschaffen‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen junge Welt über ›Zeit abschaffen‹

»Kapitalistische Produktionsprinzipien organisieren nicht nur die Welt der materiellen Dinge, sondern auch die Wahrnehmung von Zeit: Die Ware ist nie fertig, die Zukunft nie erreicht, und das Leben findet nie im Jetzt statt. Egal, ob linear oder abstrakt, vermessen oder gestundet – die Zeit der Gegenwart verstreicht im Rhythmus der Produktion: Je mehr in kürzerer Zeit hergestellt werden kann, desto größer der Mehrwert für das Kapital – und um so geringer der Anteil an freier Zeit für alle Arbeitenden. Moishe Postone zufolge ist Arbeitszeit im Kapitalismus die zentrale Wertgröße, das in ihr zu vollbringende Soll nivelliert sich seit Jahrhunderten konstant nach oben. Je nach Produktivitätsentwicklung wird die gesellschaftliche Arbeitsstunde neu verhandelt, dasselbe Quantum an abstrakter Zeit wird dabei in Gegenwartszeit umgewandelt. In Konsequenz von Postones Argumentation ist für Nagy der Klassenkampf keiner um höhere Löhne allein; vielmehr müsse sich ein solcher gegen die Wertproduktion selbst richten. (…)

Jenes Quantum an Zeit, das uns unter diesen Bedingungen zum Leben bleibt, ist nicht einfach nur ›vollgeräumt‹ und ›kaputt‹, sondern strukturell deformiert. In ihr unterwirft das Kapital die menschliche Erfahrung der Verwertungslogik und beutet diese gnadenlos aus. Im Gegenzug dazu beschwört Nagy die Geister linker Theoriegeschichte. Das ›Gespenst des Kommunismus«, mit dem Karl Marx und Friedrich Engels das ›Manifest der Kommunistischen Partei‹ von 1848 einleiteten, befindet sich ebenso in seiner Ahnenreihe wie Jacques Derridas ›Spectres de Marx‹ und Mark Fishers Hauntologie. (…)

Simon Nagy kritisiert die systematische Ausblendung reproduktiver Arbeit aus den Wertsphären des Kapitals und geht damit über die klassische Kritik am Erwerbsregime hinaus. Er würdigt Silvia Federicis Konzept der ›Lohn für Hausarbeit‹-Bewegung der 70er Jahre als revolutionäres Moment im Kampf gegen die Zeit der Vernutzung. Dennoch fordert er nicht einfach nur Geld für Hausarbeit, sondern deren Anerkennung als Fundament der kapitalistischen Produktion selbst. Wenn diese Arbeit nicht oder nicht mehr geleistet wird, geraten deren Grundfesten ins Wanken. Das Schießen auf Uhren könnte dieser Tage mit der Abschaffung von Lohnarbeit und Kleinfamilie beginnen. (…) Nagys Buch macht Lust darauf, Versuche dieser Art für ein Leben im Hier und Jetzt aufzugreifen – ohne Gegengabe und ›sans phrase‹.« − Barbara Eder, junge Welt, 26.03.2025