»(…) Umrahmt wird das Buch von einem Vorwort von Konstantin Wecker und drei Texten von ihm als Ausblick. Ich muss gestehen, dass ich sie zuerst gelesen habe. Die Texte sind warmherzig geschrieben und sehr reflektiert argumentiert. In diesem Ausblick kommen noch zwei weitere prominente Anarchisten zu Wort: Noam Chomsky im Interview und Ilija Trojanow mit einem Mut machenden Plädoyer für herrschaftsfreie Erzählungen. Es wäre jedoch irreführend, diesen lockeren Rahmen stellvertretend für das gesamte Buch zu nennen. Dieses ist nämlich in erster Linie (sozial)wissenschaftlicher Theoriebildung verpflichtet.
Interessant ist, dass ausgerechnet in einem anarchistischen Buch die ökonomische Basis so ausführlich – nämlich fast die Hälfte des Buches – diskutiert wird: Es geht um partizipatorische, solidarische und gerechte Ökonomie der Mitbestimmung und Selbstverwaltung, die fundamental anders ist als das gegenwärtige Wirtschaftssystem, das auf Profit, Wachstum, Ausbeutung, Herrschaft setzt. Dass dieses utopische Wirtschaftskonzept so ausführlich und detailliert ausgeführt wird, mag etwas Überwindung beim Lesen kosten. Es wird aber gerade dadurch lebendig und verharrt nicht in abstrakten Vorstellungen vom Ganzen; die gesellschaftliche Entwicklung ist ohnehin nicht prognostizierbar.
Gelegentlich musste ich bei der Lektüre einiger Texte etwas schmunzeln: Wenn wirtschaftswissenschaftlich geschulte Menschen ein Gesamtkonzept entwickeln, baut es auf sehr rationalen – eben wirtschaftlichen – Vorstellungen auf. Irgendwie scheint in diesen Planungen irrationales Verhalten entweder nicht vorzukommen oder sozial austariert zu sein. Andererseits beeindruckt mich die Vielzahl der angesprochenen praktischen Herausforderung. Sogar eine anarchistische Buchhaltung wird durchdekliniert. Weitere alternative Wirtschaftstheorien wie die Postwachstumsökonomie (degrowth, steady state) finden leider keinen Platz (außer abwertend in einer Fußnote); dafür ist Karl Marx im Hintergrund immer anwesend. Das will ich aber nicht grundsätzlich kritisieren, schließlich will der Band kein wirtschaftswissenschaftliches Handbuch sein.
Auch im zweiten Teil wird eine gesellschaftliche Perspektive ›zur Überwindung überflüssiger sozialer Herrschaft‹ eingenommen. Erneut bringen die Texte eine Vielfalt von Ansichten und Aspekten zum Ausdruck, sind mal theoretisch, mal anwendungsbezogen, beschäftigen sich mit dem Nationalstaat oder mit ›Frauenmacht ohne Herrschaft‹ (danke Ilse Lenz für die mal wieder herausragende Argumentation!), ja sogar mit Rechtsfragen (am Beispiel afrikanischer Gesellschaften). Auch ohne direkten Bezug zum Post-Kolonialismus gelingt es dem Buch, eine westlich zentrierte Argumentation wenn schon nicht ganz zu vermeiden, so doch immer wieder zu relativieren: Das ist Pluralismus im besten Sinn, also nicht die beliebige Ansammlung von Ansichten, sondern immer eingeordnet unter der Frage, wie Herrschaft von Menschen über Menschen vermieden werden kann.
Im dritten Teil geht es um ›konkrete Formen alternativer Entscheidungsfindungen‹, also nicht mehr um die Gesellschaft insgesamt, sondern um Gruppen, auch um sehr große. In diesen Beiträgen werden etwa praktische Umsetzungen besprochen jenseits des Mehrheitsprinzips, wie wir es aus repräsentativen Demokratien kennen. Und sogar das Philosophieren kann einen praktischen Zweck erfüllen zur Befähigung von Gemeinschaft.
Ich bin beeindruckt von der argumentativen Sorgfalt der Beiträge. Sie zeigen, dass anarchistische Politik zum einen überhaupt theoretisch fundiert sein kann und zum anderen die Theoriebildung nicht bei den bekannten Theoretiker*innen des 19. und 20. Jahrhunderts stehen geblieben ist. Den Band durchziehen mehrere feministische Beiträge, die die Argumentation immer wieder erfrischend aufmischen.
Die erste Auflage ist übrigens nach wenigen Wochen schon ausverkauft – kein schlechtes Zeichen für ein theoretisches Buch. Die zweite Auflage erscheint voraussichtlich zur Leipziger Buchmesse im März 2024 und kann den Leser*innenkreis gerne noch weiter verbreiten. « – Armin Scholl, Graswurzelrevolution, 29. Februar 2024