»Im März 2021 fand an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg die Tagung ›Krise der Nationalstaaten – anarchistische Antworten?‹ statt, aufgrund der Pandemie nur online. Im nun erschienenen Sammelband dokumentieren die drei Hauptorganisator*innen die 23 Tagungsbeiträge. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem von Michael Albert entwickelten Konzept der ›Parecon‹ (Participatory Economy, Partizipative Wirtschaft), welches weitere Autor*innen durch Aspekte von Investitionsplanung, Buchhaltung, Entscheidungsfindung und Geschlechtergleichheit ergänzen.
Dieser Strang anarchistischer Überlegungen kann am ehesten der Tradition des Mutualismus (vorteilhafte Kooperation oder gegenseitige Hilfe, Anm.d.Red.) zugerechnet werden, mit dem das Entlohnungsprinzip nicht abgeschafft, aber eine Angleichung materieller Situationen erreicht und die Organisation in Genossenschaften gefördert werden soll.
Es gibt die Kritik, dass derartige Ansätze konkreter Utopien daran kranken, dass sie zugleich zu konkret wie utopistisch wären. Das heißt, mit der Skizzierung praktikabler und machbarer Alternativen könne kein grundlegender Unterschied zum bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystem erreicht werden, während es trotzdem unglaubwürdig erscheine, sie innerhalb der bestehenden Ordnung umfangreich umzusetzen. Doch gehen solche Einwände insofern fehl, da mit ihnen der anarchistische Utopiebegriff verkannt wird: Anarchist*innen begeben sich auf die Suche nach stets widersprüchlichen und kleinteiligen Alternativen – dafür steht auch der Sammelband.
Die Beitragenden des Sammelbandes stellen sich bei aller Bescheidenheit der Herausforderung, Gesellschaftstransformation zu denken. Weitere Beiträge drehen sich beispielsweise um feministische Ethnologie (Ilse Lenz), Solidarität als zu stiftende, transformative Beziehung (Jens Kastner) und Rechtsdurchsetzung in anarchistischen Gruppen (Peter Seyferth).
Der Titel ›anarchistische Gesellschaftsentwürfe‹ sollte dennoch nicht unkritisch aufgenommen werden. Sie offenbart eine gewisse Naivität, die auch in der Ausgangsthese einer vermeintlichen ›Krise der Nationalstaaten‹ zum Ausdruck kommt. Kriege, der Ausbau der Grenzregime und eine stärker werdende Tendenz zum Autoritarismus zeigen, dass es derzeit eher zu einem Erstarken von Nationalismus und Nationalstaat kommt.
Dahingehend verbleiben viele der Beiträge teilweise zu spekulativ. Eine direkte Konfrontation herrschender Strukturen wäre aber notwendig, um gesellschaftliche anarchistische Alternativen zu umreißen. Mit der in ihm enthaltenen Ermutigung stellt der Sammelband dennoch eine Positionierung dar, die ein Schritt ist, um anarchistische Perspektiven abzubilden und zu verbreitern.« – Jonathan Eibisch, Contraste, Januar 2024