»›Kameramann, Arschloch‹? – Kameras, die den öffentlichen Raum überwachen, sind in Leipzig schon lange keine Besonderheit mehr. Immerhin ist sie eine Modellstadt für Videoüberwachung. Insgesamt 674 innerstädtische Kameras hat die AG Leipziger Kamera bereits 2003 erfasst. Bei der bloßen Erbsenzählerei bleiben diese ÜberwachungsgegnerInnen nicht stehen: Sie veranstalten regelmäßig Spaziergänge, um Interessierte aufzuklären, nehmen an Konferenzen teil und initiieren praktische Interventionen. Nun haben sie einen Sammelband herausgegeben, der sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt.
Dass Überwachung ein Thema ist, sollte mittlerweile den meisten klar geworden sein, schließlich gibt man sich ja kaum mehr Mühe, die offizielle Sammellust von Daten großartig zu verheimlichen. Allzu offensichtlich ist die Zunahme der Begehrlichkeiten staatlicher Organe, die Privatsphären auszuspähen. Hier sei nur an die Vorratsdatenvorratspeicherung erinnert und die monatelange Überwachung von Wissenschaftlern im Zuge des immer hanebüchener werdenden Verfahrens gegen die so genannte ›militante gruppe‹ (›mg‹). Mit der Demonstration ›Freiheit statt Angst‹ machten schließlich im Herbst 2008 Zehntausende ihre Absage an staatliche Kontrollen deutlich. Jüngstes Beispiel ist die hysterische Diskussion um die vermeintlichen Maßnahmen gegen Kinderpornografie, die den Kindsmissbrauch zwar in keiner Weise verhindern können, dafür aber das Tor der Möglichkeiten weiter öffnen, die Daten wie Gewohnheiten von Internetusern zu kontrollieren und zu speichern. Kontrollverluste ist eine umfangreiche Beschäftigung mit den vielen Facetten der Überwachung, denn diese beinhaltet weitaus mehr als die flächendeckende Installation von Kameras. Einzelne Kapitel sind den theoretischen Grundlagen wie politischen Implikationen gewidmet. Persönliche Erfahrungsberichte lassen schaudern und verschiedene Strategien zur Intervention werden unterbreitet, die von der Sicherung der persönlichen Kommunikationswege bis zu künstlerischen Aktionen reichen.
[…] In den Texten wird deutlich, wie sehr ein Präventionsdenken die Gesellschaft und den Blick auf eigentliche Probleme verdeckt. Unter dem Label der Sicherheit werden so einschneidende Maßnahmen eingeführt und von vielen Menschen auch noch mitgetragen – frei nach dem Motto: ›Wer nichts zu verbergen hat…‹. Der Aspekt der Selbstdisziplinierung zeigt hier gefährliche Entwicklungen. Das öffentliche, auf der eigenen Privatsphäre ruhende Auge wird derart verinnerlicht, dass es der Kontrolle gar nicht mehr bedarf, weil man sich bereits ohne äußerlichen Zwang in das als ordentlich sanktionierte Verhalten fügt.
Dass aber ein Bemängeln der Erosion bürgerlicher Grundrechte in der Überwachungskritik zu kurz greift und das jeweilige Anrufen des Bundesverfassungsgerichts nur pragmatische Zwischenlösungen sein können, stellt den positiven Mehrwert dieses Buches über eine Sammlung eklatanter Beispiele hinaus dar. Denn emanzipatorische Kritik kann sich nicht hinter dem Staat zurückziehen und lediglich auf seine Organe vertrauen. In all den Debatten um die Überwachung muss betont werden, dass es sich um Angriffe des Rechtsstaates und nicht um Angriffe auf den Rechtsstaat handelt. Nur so lässt sich das Überwachungsparadigma als solches abzuschütteln. Daher reichen liberale Argumente nicht hin, weil sie selbst Teil der etatistischen Denkform sind, der es zu entkommen gilt.« – Tobias Prüwer, LeipzigAlmanach, 18. Mai 2009