»Class Power! dokumentiert die politische Arbeit der AngryWorkers – eines Kollektivs in der Peripherie West-Londons. Das Buch ist thematisch vielfältig, man findet darin die Beschreibung ihrer konkreten Organisierungsarbeit, detaillierte Studien der Arbeitsprozesse in den Betrieben oder allgemein politischere Überlegungen, wie eine nachhaltige Beschäftigtenmacht aufgebaut werden kann. Je nach Interessenschwerpunkt können sich Leser:innen auf einzelne Teile des 528 Seiten starken Werkes fokussieren und erhalten trotzdem ein Verständnis des inhaltlichen Gesamtzusammenhanges.
Aufgrund der perspektivischen Bandbreite des Buches, in dem jeder Abschnitt für sich eine gesonderte Besprechung verdienen würde, konzentriert sich der folgende Text auf das spezifische Verständnis gewerkschaftlicher Klassenpolitik, welches die Gruppe formuliert. Von dieser Klassenpolitik geben die Autor:innen gleich zu Beginn einen atmosphärischen Eindruck. Sie beschreiben, warum sie in das Industrie- und Gewerbeviertel Greenford in West-London zogen. Greenford ist ein Teil des westlichen Korridors von London, in dem zehntausende Arbeiter:innen in der Warenverteilung und Lebensmittelverarbeitung beschäftigt sind. Mehr als die Hälfte der Lebensmittel, die die Bevölkerung Londons konsumiert, wird in diesen Vierteln verarbeitet, abgepackt und ausgeliefert. In unmittelbarer Nähe zum Flughafen Heathrow mit weiteren 80.000 Beschäftigten manifestiert sich ein logistischer Knotenpunkt. Hier liegen die ›logistischen Nervenenden der Stadt‹, die räumliche Konzentration potenzieller Beschäftigtenmacht (›London ist abhängig von den Logistikparks seiner Vororte‹). Auf der politischen Landkarte der Londoner Linken scheint Greenford aber nicht auf. ›Welch ein Kontrast: Auf der einen Seite die strategische Lust, sich auf dieses potenzielle Juwel einer Arbeiterbewegung einzulassen; auf der anderen Seite die eingerosteten und abgehobenen Debatten der Labour Party mit ihren internen Machtkämpfen. Viele Londoner Linke sind vor allem an Letzterem interessiert. ‹ Die Autor:innen stellen dazu eigene Überlegungen an und führen es auf die soziale Basis der Londoner Linken zurück, die sich vor allem aus Freischaffenden, Studierenden und akademisch geprägten Milieus rekrutiert und dadurch weitgehend den lebensweltlichen Bezug zu den Arbeiter:innenmilieus verliert, wohl aber für sie spricht. ›Wir kamen zu dem Schluss, dass es einer Klassenpolitik bedurfte, die stärker im Alltagsleben der Arbeiter*innen verankert ist. Nur so lassen sich Strategien entwickeln, die auf konkreten Erfahrungen am Arbeitsplatz und in Arbeitervierteln aufbauen.‹ Hier wird ein spezifisches Verständnis von Klassenpolitik deutlich: Eingebettet in die Alltagsrealität der Lohnabhängigen unterscheidet sich diese Sicht von Vertretungsmodellen, in denen gewerkschaftspolitische Entscheidungen losgelöst von den Mitgliedern getroffen werden. Mit Blick auf gewerkschaftliche Klassenpolitik ist das Buch insbesondere eine Kritik an konsensual-korporatistischen Modellen, in denen Beschäftigte durch bürokratisierte Gewerkschaften vertreten werden. Strukturell kritisieren die Autor:innen, dass diese Formen von Gewerkschaft am erzeugten Profit partizipieren, aber den grundlegenden Ausbeutungscharakter durch kapitalistische Lohnarbeit nicht hinterfragen – sofern diese Lohnarbeit sozial abgesichert ist. Organisationell übersetzt sich das in eine von der Belegschaft abgehobene Funktionär:innenschicht, die auf der betrieblichen Ebene um gute Beziehungen zum Management bemüht ist – oftmals auf Kosten peripherer Segmente der Arbeiter:innenschaft, wie beispielsweise Zeitarbeiter:innen. Gleichzeitig kritisieren die Autor:innen auch syndikalistische Ansätze, also all jene Gewerkschaftsformen, die im Gegensatz zu den Vertretungsmodellen konsensual-korporatistischen Schlags die unmittelbare Mitbestimmung in das Zentrum des gewerkschaftspolitischen Handelns rücken. Diese syndikalistischen Ansätze neigen in der politischen Praxis oft dazu, die Selbstbestimmung von Arbeiter:innen über direkte Aktionen derart auf ein Podest zu heben, dass sie darüber die politische Analyse vergessen und im Ergebnis eine einheitliche Klassenlinie unterlaufen.
Das Gegenüber von basisdemokratisch organisierten Gewerkschaften, die einen Hang zur direkten Aktion haben, und klassischen Gewerkschaften, die mehr auf das Aushandeln von Kompromissen setzen, besteht seit der Organisierung von Arbeiter:innen mit Beginn der Industrialisierung. Im Fall von Class Power! wird dieser Gegensatz am Beispiel des logistischen Nadelöhrs Londons aktuell. Die Autor:innen grenzen sich dabei von beiden Ausprägungen ab. Zum einen unterscheidet sich der Ansatz der Angry Workers einer unabhängig organisierten Arbeiter:innenbewegung von Vertretungsmodellen, weil diese die unmittelbaren Interessen von Beschäftigten nicht konsequent wahrnehmen, artikulieren und durchsetzen. Zum anderen orientieren sich die Autor:innen nicht an syndikalistischen Formen, die an den unmittelbaren Forderungen ihrer Mitglieder orientiert sind, sondern an einem Modell der Klassengewerkschaft, das diese Forderungen konsequent mit einer politischen Strategie einer Einheit der Arbeiter:innenklasse zusammendenkt. ›All das klingt großartig. Wir bauen Basisgewerkschaften auf und bilden Arbeitermacht! Wenn es nur so einfach wäre …‹
[…] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Angry Workers viel Zeit und Energie in ihre Gewerkschaftsarbeit steckten und aus dieser Arbeit heraus eine fundierte Kritik an traditioneller Gewerkschaftspolitik formulierten, dabei aber auch die lokale Situation in Greenford besser verstanden und ein Solidaritätsnetzwerk sowie Kontakte in zahlreiche Betriebe aufbauten. Geleitet von der Überzeugung, dass eine gute Gesellschaft nur durchsetzbar ist, wenn die Arbeiter:innenklasse organisiert ist, stützt sich das vorgeschlagene politische Handlungskonzept auf die Vernetzung diverser selbstorganisierter Gruppen. Class Power! ist ein Buch, das insbesondere für all jene interessant ist, die Interesse an einer strategischen antikapitalistischen Ausrichtung haben und erfahren wollen, wie eine Gruppe aus der Analyse ihrer konkreten lokalen politischen Arbeit eine Strategie für eine gesellschaftliche Veränderung entwickelt, in der die Vielen ein gutes Leben haben.« – Benjamin Herr, Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3, 2022
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