»Köln, Mitte September 2022: Mesut Bayraktar ist im DGB-Haus zu Gast, um seinen jüngsten Roman Aydin zu präsentieren. Der Autor ist Teil des Verbands der Schriftsteller und Schriftstellerinnen (VS) in ver.di. Mehr als 50 überwiegend junge Menschen folgen der Einladung des kürzlich gegründete Migrationsausschuss des ver.di-Bezirks Köln-Bonn-Leverkusen, weitere sind online zugeschaltet. In einem Wechsel Lesung, Gespräch und Publikumsdiskussion führt Andrej Bill (ver.di) durch einen kurzweiligen Abend, bei dem es auch um die Frage geht: Lässt sich jemand wie der Romanheld Aydin, oder besser: der Antiheld, mit seiner intuitiven Widerständigkeit nicht für eine gewerkschaftliche Politik erreichen? Denn wer sich zu der Auftaktveranstaltung der neuen ver.di-Gruppe einfand, wusste: Aydin ist einer von uns.
Wer den Roman schon gelesen hatte, wusste um jenes ›verweigerte Leben‹, von dem im Untertitel die Rede ist: Am Ende wird Aydin ›mit nichts‹ in Istanbul stranden, ›weder Mark noch Lira in der Tasche‹, innerlich leer, der Würde beraubt, kurz vor der Psychiatrie. Sie haben ihn abgeschoben, nach all den Prügeln: von Nazis, Türstehern, Knastwärtern, Dealern, vor allem von einer sozialen Gewalt, die sich ihm ›einkörperte‹, wie schon dem Vater, mit Anfang fünfzig ›kaputtgeschlagen von der deutschen Industrie, die ihn nicht mehr brauchte, weil er nicht mehr verwertbar war‹. So viel Schläge, wie er einsteckte, konnte Aydin, selbst nicht zimperlich, gar nicht zurückgeben. Denn sie galten ihm und einer ›geschlagenen Klasse‹, wie Mesut Bayraktar deutlich macht. Und doch: ›Unsere Geschichte ist keine Opfergeschichte‹, wird der Autor die biografische Spurensuche nach seinem realen Onkel mit einem Brief an den Verstorbenen schließen. ›Sie ist Teil der Geschichte dieses Landes und jenes am Bosporus. Sie ist eine Freiheitsgeschichte, nicht trotz, sondern wegen unzähliger Niederlagen. […]
Gebrochen wird die Erzählung an zeithistorischen Ereignissen
Ob Bayraktar hier und da überzieht, im Furor über die ›Arroganz der Besitzenden‹? Nun, wer nicht drinsteckt, hebe nicht den Zeigefinger, es lauert eine moralische Empörung, gerichtet gegen die Besiegten, wenn einer der ihren mal blankzieht. Ob die Jungs aus dem Park gut oder schlecht sind? Dazu wirst du nicht geboren, es sind die Verhältnisse, stupid, ›Moral ist Sache von Spießern‹. Bayraktars Wut ist grundiert, zwei vorangestellte Zitate von Marx und Hegel lassen es erahnen. Und so steht, wer ›nicht zu verwerten‹ ist, schon mal seinen Peinigern gegenüber, wie Oury Jalloh, tot aufgefunden in einer Dessauer Polizeizelle. Die NSU-Mordserie, in die der ›Staat verstrickt ist‹? Hanau? Eine AfD, die ›ihr hofiert‹? All das wird schonungslos seziert, es ist ›eure Brut‹. En passent nimmt Bayraktar die These von der ›freiwilligen Knechtschaft‹ auseinander, derlei Theorien produziere ›die Elite wie am Fließband‹. Historische Beispiele? Freiwillig könne Knechtschaft nur sein, wenn es eine Wahl gäbe. Doch ›Aydin und Milliarden andere hatten sie nie‹. Verblüffend auch Reflexionen wie die über ›rückwärtsgewandte und vorwärtsgewandte Melancholie‹. Oder eine Geschichte in der Geschichte, eine von ›geschlagenen Körpern‹. Etwas unvermittelt montiert, doch mit der nötigen Dramaturgie erzählt, dringt der Autor in den Bergen am Schwarzen Meer zum Kern der geschundenen Biografie des Vaters vor und lernt die Mutter zu verstehen.
Gebrochen wird die Erzählung an zeithistorischen Ereignissen. Zonguldak 1990: Die Staatsmacht gegen 50.000 streikende Bergarbeiter. Staatsstreiche wie Chile 1973, Türkei 1980, Bolivien 2019, das Muster: Im Verbund mit dem Westen die Linke treffen und neoliberale Politik durchsetzen. Will sagen: Wenn du aufstehst, gibt’s Schläge, im Kleinen wie im Großen, ausgeteilt im Auftrag der Besitzenden. Der Klang der Staatsgewalt. Die Gegenwehr Aydins mag destruktiv wirken. Doch lässt sie den Atem der Geschlagenen erkennen, inmitten gesellschaftlicher Risse. Anmut und Leiden, Scham und Trauer, Momente von Hoffnung und Glück: Es sind große Themen, die es zu einer Freiheitsgeschichte braucht. Aydin löst sie ein, das war auch an diesem Abend zu spüren.
Hätte Aydin auch andere Schlüsse ziehen können? Welche Schlüsse ziehen wir aus Aydins Leben?, wird die Publikumsdiskussion eröffnet. Es sei diese ›Rastlosigkeit‹, ein ›fast revolutionärer Instinkt‹, höchstens vordergründig unpolitisch, was ihn auf die Spur von Aydin gebracht habe. Er selbst, so Bayraktar, habe als Jugendlicher das Glück gehabt, mit linken und gewerkschaftlichen Positionen in Berührung gekommen zu sein. Das habe ihm Perspektiven aufgezeigt und ihn später zum Schreiben gebracht. ›Ich kenne selbst genug Jungs in Köln-Chorweiler und anderswo‹, erhebt sich zum Schluss noch jemand im Saal, ›die wie Aydin mit Drogen experimentieren, die im Leben herumgeschubst‹ würden. Manche ›haben die Kurve gekriegt, stehen im Leben, streiten für ihre Rechte. ‹ Die anderen bräuchten uns ›umso mehr‹« – Glenn Jäger, VS in ver.di, 2022