antifa über ›Vom Hindukusch bis Buchenwald‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen antifa über ›Vom Hindukusch bis Buchenwald‹


»›Der Zwang zu sprechen bleibt, doch die Hoffnung auf ein echtes Gespräch scheint eine Verzweifelte‹, schrieb der Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman. Damit beschreibt er den Lyriker Paul Celan, dessen kryptische Sprache sich nahe am entsetzten Verstummen bewegt angesichts seiner Erfahrungen im Holocaust. Diese Grenze zwischen Sprechen und Schweigen greift das Buch Vom Hindukusch bis Buchenwald auf und berichtet vom Aufeinandertreffen zweier kollektiver Traumata.

Ausgangspunkt ist die Begegnung der Autorin Tine Rahel Völcker mit dem aus Afghanistan geflohenen Suhrab in der Gedenkstätte Buchenwald im Jahr 2020. Suhrab kündigt seine Arbeitsstelle in der Gedenkstätte, weil der Ort immer häufiger seine schmerzhaften Erinnerungen an die eigene Fluchtbio-grafie hoch holt. Kurz darauf wird sein Asylantrag abgelehnt, und Suhrab erfährt die menschenfeindliche deutsche Behördenpraxis am eigenen Leib.

Sie unterhalten sich über die NS-Verbrechen in Buchenwald und Suhrabs Flucht aus Afghanistan, über Rassismuserfahrungen heute und das deutsche Asylsystem. Beide möchten die politische Dimension seiner Erinnerungen und Erfahrungen öffentlich sichtbar machen, jedoch stößt Suhrab immer wieder an die Grenzen des Sprechens. Auch der Erzählstrang wird immer wieder unterbrochen, und genau das macht das Lesen spannend, weil es nicht die Erwartungshaltung der Leser:innen bedient und sich ein roter Faden entlang von Sprechen und Schweigen spannt. Die Autorin greift das Element des Nicht-erzählen-Könnens auf und gibt anhand von Suhrabs Biografie einen kritischen Einblick in das deutsche Asylsystem. Mittels Fakten, Berichten und persönlichen Gesprächen werden die Etappen der menschenunwürdigen Behandlung umrissen, die viele Schutzsuchende durchlaufen müssen. Tine Rahel Völcker beschreibt, wie Beamt:innen der Ausländerbehörde die Anhörungen von Geflüchteten durchführen, ohne die schmerzhaften, teils traumatischen Umstände des Erzählens zu berücksichtigen. Die Anhörung wird nach Kategorien wie Detailtiefe, Chronologie, Glaubwürdigkeit beurteilt, auch wenn die psychische Belastung durch die Fluchtbiografie genau diese Darstellungsweise verhindert.

Während das deutsche Asylsystem die Versachlichung der individuellen Schicksale anstrebt, durchbricht der persönliche Bericht diese Kategorisierung. Die Ausländerbehörde funktioniert in den Kategorien wahr/unwahr und verwendet dafür Bewertungskriterien, die der persönlichen Erfahrung von Gewalt, Bedrohung und Angst von Schutzsuchenden nicht gerecht werden. Während das menschenunwürdige Vorgehen der Ausländerbehörde Empörung weckt, ertappt uns Suhrab in der eigenen Irritation bei der Frage nach der tatsächlichen Wahrheit. Das Buch zeigt die Zwänge in Suhrabs Fluchtgeschichte auf und verdeutlicht die vielen Graustufen zwischen wahr und unwahr.

Dabei knüpft diese Fluchtgeschichte an die tagesaktuelle Situation von tausenden Flüchtenden vor den Toren Europas an. Die unmenschliche Katastrophe am Flughafen Kabul in Afghanistan jährte sich Ende August 2022 zum ersten Mal. Kurz nach der Machtübergabe an die Taliban in Afghanistan versuchten zehntausende Menschen verzweifelt die Flucht über die Luftbrücke – viele starben bei diesem Versuch, und nur ein kleiner Teil schaffte die Ausreise. Nun soll ein humanitäres Aufnahmeprogramm monatlich 1.000 gefährdeten Afghan:innen Schutz bieten. Während die Bundesregierung unter Anwendung eines Onlinetools mit einem Algorithmus über die Schutzwürdigkeit entscheidet, sind Hunger, Menschenrechtsverletzungen und gewaltsame Tötungen längst Alltag in Afghanistan. Über zwei Millionen Afghan:innen befinden sich derzeit auf der Flucht.
Europa reagiert auf die Fluchtbewegung, indem wieder Zäune hochgezogen und passlose Menschen ausgeschlossen werden. Wie steht das im Zusammenhang mit den Verbrechen des Faschismus, und was bedeutet das für den Antifaschismus heute?

›Man soll Unvergleichliches nicht vergleichen wollen, aber ein Gedanke geht mir nicht aus dem Sinn, und ich werde es trotzdem tun, denn es geht wieder um Millionen‹, sagte der Schriftsteller und Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji 2016 bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Dauerausstellung ›Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt‹. Er beschreibt die unvergleichlichen Tragödien im KZ Buchenwald und spannt den Bogen zur menschenunwürdigen Situation für zigtausende Flüch-tende an den EU-Außengrenzen – denn es geht ihm um Empathie mit den Opfern, um einen Appell an die heutigen Generationen.

Tine Rahel Völcker gelingt es auf feinfühlige Weise, die Kontinuität der Entmenschlichung in Europa aufzuzeigen, ohne die Schrecken des Holocaust zu vergleichen oder gar zu relativieren. Sie fragt sich, ob ›jene Kultur des Wegsehens womöglich von Grund auf in die weißen, westlichen Privilegien eingeschrieben ist‹. Und doch schafft sie mit dem Buch Vom Hindukusch bis Buchenwald einen packenden Bericht, der sich über die Ignoranz der Politik und Gesellschaftsstrukturen hinwegsetzt und für die Integrität und Freiheit aller Menschen einsteht.« – Paulina Majewska, antifa, 07. November 2022

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