»Am 30. Oktober 1961 trat das erste sogenannte Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei in Kraft. Während die offiziellen Stellen des deutschen Staates 2021 das 60. Jubiläum feierten, Freundschaft, Zusammenhalt und Diversität hochhielten, veröffentlichte der Autor Mesut Bayraktar AYDIN. Ein Buch, das diesem Narrativ widerspricht und – anders als so manches Werk der schriftstellenden zweieinhalbten und dritten Generation der Arbeitsmigrant*innen – nicht um Anerkennung bittet, sondern von der gewaltigen Wut zeugt, die sich angesichts des Traumas namens Arbeitsmigration zwangsläufig einstellte. Wut, die es auch heute noch gibt und die in den Worten des Autors ›Anstoß für Zärtlichkeit‹ ist; Anstoß für das Verfassen von AYDIN. Für die Charakterisierung als Roman fehlt AYDIN das Fiktive und für eine Erzählung ist AYDIN nicht kurz genug. Bayraktar liefert hier einen Bericht, einen Zeugenbericht aus Erinnerungen seiner Familie und eigenen Beobachtungen des gegenwärtigen Politischen. Auch Geschichten kommen vor, die bittere Märchen aus vergangenen türkischen Dörfern sein könnten oder selbst mal Berichte waren, von denen vergessen wurde, woher sie stammen. Geschichten, die scheinbar immer da waren. Geschichten, die die Schrecken des Realen fiktionalisieren, um sie erträglich zu machen. Bayraktar erkennt diesen Mechanismus und arbeitet mit ihm: ›Am Ende war das Wort‹ – so beginnt er das Buch.
Der eigentlichen Bucherzählung stellt Bayraktar einen Prolog persönlicher Gedanken voran. Solche persönliche Gedanken finden sich immer wieder im Buch zur Lebensgeschichte des titelgebenden Aydin. Damit unterbricht der Autor aber das Werk nicht, sondern zeigt die Verknüpfungen, die zwischen Aydins Lebensgeschichte – repräsentativ für die Gastarbeiter(-kinder) des Anwerbeabkommens – mit seiner eigenen Lebensgeschichte bestehen. Die Abhandlung über das Leben und im konkreten den neunjährigen Aufenthalt in der Bundesrepublik von Aydin ist somit eine Abhandlung über Bayraktars Leben. Seine eigene Lebensgeschichte umfasst nicht nur seine Lebensspanne, sondern beinhaltet treffend formuliert eine ›vorgeburtliche Biografie‹. Das trifft im Kontext des sogenannten Anwerbeabkommens auf alle Kinder der Arbeitsmigrant*innen zu. Wenn Bayraktar schreibt ›Denke nie, dein Leben ist etwas Einzigartiges. Das ist es nicht‹, will er niemandes Erfahrungen und Gefühle schmälern. Er weist schlicht mit nüchternem Blick auf das gemeinsame Schicksal von Millionen Menschen hin. Bayraktars Erzählungen aus den Erinnerungen seiner Familie vom zurückgelassenen Dorfleben, den Tieren, Festen, Traditionen und Familiengeheimnissen und den geschundenen Körpern aus den deutschen Fabriken sind nichts Besonderes. Sie gleichen den Erzählungen so vieler anderer. Aber sie sind bedeutsam. Den Unwissenden deuten sie auf eine Welt, die fernab ihrer liegt. Eine Welt, die zwar längst vergangen, aber immer noch präsent und real in den Erinnerungen vieler ihnen fremden Nachbar*innen ist. Den Wissenden deuten sie auf ein geteiltes Schicksal, ein geteiltes Leid, das nicht von irgendwo kommt, sondern von Bedingungen, die auferlegt sind von ›der Gewalt der Gesellschaft‹. Bayraktar benutzt bewusst klare Formulierungen wie ›Ware Arbeitskraft‹, ›Ausbeutung‹ und ›Profitimperativ‹. Das Leben von Aydin, einem nachgezogenen Gastarbeiter*innenkind, das selbst zur Gastarbeiter*innenschaft gezwungen wurde, berichtet letztendlich so von den menschlichen Konsequenzen einer inhumanen Politik, die nicht anders kann, als im Sinne des kapitalistischen Primats zu handeln.
All das bringt Bayraktar in einem Format auf Papier, das seinesgleichen sucht: wortgewaltig und wütend, doch klaren Begriffs. Zuweilen verlieren sich die Sätze leider in langen Gesten. Dies mag daran liegen, dass sich hier mehr den Weg durch das geschriebene Wort bahnen möchte, als es die Lettern zulassen; Bayraktar selbst schreibt: ›Jedes der neun Jahre in Deutschland könnte ein ganzes Buch mit zehntausend Seiten füllen. Aydin würde es verdienen. Jeder Geschlagene würde es verdienen. Wäre ich nur in der Lage, ich würde nicht zögern, neun Bücher zu schreiben, neun Patronen aus dem Pistolenlauf der Sprache direkt in das Herz der Vernunft abzufeuern. AYDIN ist eine Zäsur in der neueren, sogenannten postmigrantischen Literatur. Bayraktar klagt nicht nur an, seine Anklage impliziert auch den Ausweg aus dem beschriebenen Elend. Das von ihm geschilderte Spezifische, Vergangene, erkennt er als Teil eines fortlaufenden Allgemeinen. Sein schriftstellerischer Kampf gegen das Elend ist auch Aydins Lebenskampf und dessen Kampf ist zugleich der Kampf aller unterdrückten Menschen. Die Geschichte der Arbeitsmigrant*innen in der Bundesrepublik ist eben doch vor allem ein Teil der Geschichte des Klassenkampfes.
An einer Stelle schreibt Bayraktar ›Sie [Schriftsteller] erwarten von der Literatur Wahrheit, nicht literarische Wahrheit, sondern Wahrheit. Wäre Literatur dazu nicht imstande, wäre sie nutzlos und nur zur Beschönigung des verwalteten Elends. […] Dann sollte man sie verwerfen. Dann würde ich aufhören zu schreiben.‹ Seinem Anspruch ist der Schriftsteller mit AYDIN gerecht geworden. Es bleibt, Bayraktar zu wünschen, den Blick nicht abzuwenden, und weiterzuschreiben. Gegen das Elend, für all die Aydins der Vergangenheit, der Gegenwart und für unsere Zukunft.« – Özgün Kaya, analyse & kritik nr. 683, 14. Juni 2022