Rezension
aus der Bochumer Stadt & Studierenden Zeitung
‘Sammelband zur Erinnerungspolitik
Vergessen dank Erinnern?!
In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren die Feuilletons der Zeitungen sowie diverse Fernseh-Talkrunden immer wieder mit geschichtspolitischen Debatten beschäftigt. In den letzten Jahren hat sich vor allem der öffentliche Diskurs sowie die Publizistik immer stärker den Deutschen als Opfern des Bombenkriegs und der Vertreibung zugewandt, während zugleich die ZeitzeugengInneneration in zunehmendem Maße ausstirbt. Diese Entwicklungen werfen verschiedene Fragen auf, denen sich der Sammelband Weiter erinnern? Neu erinnern? widmet. Die hier versammelten Aufsätze waren die Grundlage einer Veranstaltungsreihe des Arbeitskreises Erinnerungskultur aus Marburg, die 2002 unter dem Titel „Die Zukunft der Erinnerung. Vom Umgang mit der Vergangenheit“ durchgeführt wurde.
Der Band ist in zwei thematische Blöcke unterteilt: Der erste ist der Untersuchung von Veränderungen der Geschichtspolitik in den Diskussionen um die nationalsozialistische Vergangenheit gewidmet.
Bernd Boll eröffnet den Reigen mit der Frage nach einem „Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur“(13). Ausgehend von der Kritik an der ersten sogenannten „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), schlägt er einen Bogen zum Historikerstreit. Er zeichnet nach, wie der revisionistische Ansatz Ernst Noltes über den Personenkreis um Rainer Zitelmann, der Deutschland wieder als „selbstbewusste Nation“ sehen wollte, Ende der 1990er Jahre auch in (links-) liberalen Kreisen Einzug fand. Als Belege führt er Klaus von Dohnanyis „Frankfurter Rede“ von 1998 und die Rede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an. „Offensichtlich schickt sich der Revisionismus an, das Sperrgebiet des Rechtsextremismus zu verlassen und mit verdünnten Parolen seinen Anspruch auf einen Platz in der politischen Mitte anzumelden“, (33) kommentiert Boll diese Entwicklung. Die Befürchtung, die Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit könne wieder zu einem gesellschaftlichen Tabu werden, weist er aber zurück. Zum einen gebe es in der BRD auch Kräfte, die eine andere Richtung vorgäben. Zum anderen hält er „für noch entscheidender […], dass der deutsche Diskurs nicht abgeschottet ist, sondern international vernetzt geführt wird, was ein beträchtliches Korrektiv zu allen Tendenzen der Relativierung darstellt (37).“
Eine ähnliche Richtung schlägt auch Gerd Wiegel ein, der dem Wandel der Bedeutung der Vergangenheit für die politische Gegenwart nachspürt, der laut seiner These in den letzten 15 Jahren statt gefunden hat. Die nach der Wiedervereinigung von konservativer Seite verstärkt postulierte „Entkopplung von Geschichte und Gegenwart“ im Sinne der „Aufhebung der einschränkenden Wirkung der Vergangenheit“ (143) hat sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt. Dies gelang nicht zufällig unter einer rot-grünen Bundesregierung, wie Wiegel festhält: „Für den Durchbruch erforderlich war eine neue Generation politischer Eliten, die unbelastet von der Vergangenheit, versehen sogar mit dem Selbstverständnis als Antifaschisten, eine unbefangene deutsche Interessenpolitik durchsetzen […] können.“ (141)
Hannes Herr, Leiter der ersten „Wehrmachtsaustellung“, vergleicht dezidiert die zentralen Einzelthesen der ersten mit denen der neuen Ausstellung. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Aufsehen erregenden Aussagen der ersten Ausstellung vollkommen verschwunden sind – mit Ausnahme der Tatsache, dass die Wehrmacht nicht unwesentlich an Kriegsverbrechen beteiligt war. Er konstatiert, Reemtsma betreibe mit der zur Zeit in Dortmund gastierenden Ausstellung „Konsensgeschichte“. Augenfälligster Beweis dafür sei die vollständige Entfernung der Landserfotos und somit das Verschwinden der Täter und ihrer Mentalität.
Der Aufsatz von Günter Saathoff gleicht insgesamt leider eher einem Rechenschaftsbericht der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“, deren Generalbeauftragter er seit 2000 ist. Trotz der Problematisierung bestimmter Aspekte und Fehlleistungen der ZwangsarbeiterInnentschädigung fällt der Text hinter das kritische Niveau der anderen Texte dieses ersten Blocks zurück.
Im zweiten Block des Bandes setzten sich die AutorInnen mit der Beschäftigung mit der NS-Geschichte in der gegenwärtigen Alltags- und Hochkultur auseinander.
Hanno Loewy beschäftigt sich mit dem Film X-Men, der auf einer Comic-Vorlage aus den 60er Jahren basiert. Magneto, Holocaustüberlebender und wie die andern X-Men Mutant, hat der Menschheit den Kampf angesagt, weil er gestern wie heute zu den Parias gehört und keinerlei Hoffnungen mehr in die Menschen setzt. Diese „Inszenierung des Holocaust-Überlebenden als bedrohliche Figur“ betrachtet Loewy „keineswegs als antisemitische Provokation […], sondern [als] Bestandteil einer Neudefinition der bis dahin allzu glatten, widerspruchsfreien Comic-Helden“ (152) á la Superman oder Batman.
Kai Köhler expliziert an Hand von Texten Walsers, Bernhard Schlinks, Grass’ und Enzensbergers die Gefahr einer geschichtspolitischen Wendung, die gerade im deutschen Literaturbetrieb festzustellen sei. Er konstatiert die Wandlung der Linksliberalen zu Apologeten eines positiv bestimmten „deutschen Kollektivs“. Die Hauptgefahr bestehe darin, dass, mit Ausnahme von Schlink, die Autoren „im politisch-literarischen Feld seit langem als Meinungsführer etabliert sind. […] Deshalb kommt ihren Meinungsäußerungen heute strategische Bedeutung zu: Sie sind in der Lage, jenen Teil der Öffentlichkeit zu integrieren, der bis zum Regierungswechsel 1998 sich als kritisch verstand.“ (187)
Sabine Manke thematisiert anhand des Begriffs des „Gespenstes“ und der Figur der „blonden Frau im Dirndl“ den medialen Umgang mit der Vergangenheit. Die Schlussfolgerung ihrer Ausführungen ist optimistisch: „Die Chancen stehen in einer modernen, massenmedial vermittelten Gesellschaft immer gut für Phänomene. Solange die ihnen zugrundeliegenden Konflikte und Fragestellungen als ungelöste bestehen, werden sie als ständige Herausforderung für eine Auseinandersetzung mit ihnen immer wieder auftauchen. Ihr bewahrender Charakter hat dabei nicht nur einen reaktionären oder kompensatorischen Zug, in ihm verbirgt sich zugleich die Möglichkeit in die Tabuisierungen der Geschichte einzusteigen.“ (215)
Der letzte Beitrag, geradezu ein Epilog, skizziert die Geschichte der Gedenkstätte Dachau und die Entwicklung der Rahmenbedingungen für die Arbeit in den Mahn- und Gedenkstätten. Die Überschrift „Erziehung nach Auschwitz“ ist in Bezug auf die geweckten Erwartungen sicherlich irreführend. Doch bezüglich der Bedeutung der KZ-Gedenkstätten für die Aufrechterhaltung der Auseinandersetzung mit dem NS ist sie auch nicht gänzlich verfehlt.
Als Fazit bleibt festzuhalten, dass der Sammelband, den selbst definierten Nutzen, die Fragen zum gegenwärtigen und zukünftigen Umgang mit der deutschen Vergangenheit klarer zu machen sowie Denkanstöße zu ihrer Beantwortung zu liefern, weitgehend erfüllt. Ein vor allem wegen einzelner Aufsätze lesenswertes Buch.’
marius schiffer