Vegan Straight Edge: Lifestyle oder Ideologie?

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Vegan Straight Edge: Lifestyle oder Ideologie?
von Klaus Petrus (kp) // 14.05.2011

Wer sind diese Kids, die ultra-harte Musik hören, auf Drogen aller Art verzichten, One-Night-Stands verwerflich finden und obendrein noch vegan leben? Konsumrebellen, Gesundheitsfanatiker, Mo­ralapostel? Anfänglich gegen die No-Future-Attitüde der Punks gerichtet, schwankt diese Subkultur namens Straight Edge seit den 1990er Jahren zwischen verantwortungsvollem Lifestyle und teilweise schrägen Ideologien hin und her. Wo steht der Straight Edge heute? Eine Spurensuche von Klaus Petrus und ein Interview mit dem Straight-Edge-Experten Gabriel Kuhn.

Null Bock auf no future
Keine Brachial-Punks, keine Tattoos bis zum Hals, nicht einmal ein schwarzes X auf der Hand. Irgendwie sehen die Jungs gar nicht danach aus. xSidx, 23, winkt ab: “Vergiss diese Klischees! Nimm zum Beispiel die Sache mit “Kein Sex!”. Wir sind nicht gegen Sex, wie das immer geschrieben wird. Wenn einer sagt “Don’t drink!”, meint er ja auch nicht, man solle überhaupt nichts trinken. Es geht darum, nicht einfach rumzuvögeln, das ist alles.”
So in etwa hat es auch der US-Amerikaner Ian MacKaye in einem Interview gesagt. Von ihm stammen die Zeilen “Don’t drink / Don’t smoke / Don’t fuck / At least I can fucking think”. Der Song heisst “Out of Step”, das war 1981 und zu einer Zeit, als Ronald Reagan den “War on Drugs” ausrief und seine Frau Nancy mit der Kampagne “Just Say No” republikanische Werte zu retten meinte.
Keine One-Night-Stands, sich nicht zudröhnen und benebeln lassen. Wer bewusst so lebt, ist Straight Edge, oder kurz: sXe. Anfänglich war das gegen die destruktive Attitüde der Punks gerichtet, gegen no future und fucked up. Das schwarze X auf dem Handrücken ist in der Szene zu einem Erkennungscode geworden: Offenbar markierten damit früher die Türsteher in den Staaten auf Konzerten alle Kids unter 18, da an sie noch kein Alkohol ausgeschenkt werden durfte.
Dass aus MacKayes Strophe über Nacht ein Verhaltenskodex wurde, ein moralisches ABC der Reinlichkeit, wollte dem Sänger der Hardcore-Band Minor Threat aus Washington, D.C., nicht gefallen. Als der Song “Out of Step” 1983 noch einmal aufgenommen wurde, fügte MacKaye der ursprünglichen Fassung die Zeilen hinzu: “Hört zu, das sind keine Verhaltensregeln! Ich sage euch nicht, was ihr tun sollt!”
Die Debatte um die richtige Auslegung von “Straight Edge” ging damit erst richtig los.

Was jeder selbst wissen muss
“Straight Edge ist eine persönliche Sache, das entscheidet jeder für sich selbst.” Marc ist 19, studiert Mathematik und lebt seit drei Jahren Straight Edge. Damals hatte er einen Absturz, tags darauf kam mit dem Kater die Einsicht: “Das lohnt sich nicht, ist völlig unnötig, kostet nur und macht Kopfschmerzen.” Geraucht hat er nie, auch andere Drogen sind kein Thema gewesen. Dass es für seine bewusste Abstinenz einen Namen gibt, habe er erst später bemerkt.
Auch Serge hatte sein Schlüsselerlebnis: “Wir hingen im Jugendlokal rum, haben uns volllaufen lassen und stundenlang darüber diskutiert, was sich alles ändern muss. Plötzlich dachte ich mir: ein schöner Haufen, redet über Revolution und kann nicht mehr auf den Beinen stehen.” Das war vor sechs Jahren. Seither lebt der 22jährige drogenfrei, ist Straight Edge mit Leib und Seele. “Mir geht es um meine Gesundheit. Und um Kontrolle: Ich will alles, was ich mache, mit klarem Kopf tun, will immer wissen, wie ich handle und warum.” Wie andere das sehen, sei ihm egal, schliesslich muss jeder selbst wissen, ob er sich “wegschiessen” will. “Zwingen kann man niemanden.”
So liberal ging es in der Straight-Edge-Szene nicht immer zu. Mitte der 1990er Jahre gab es in den USA Übergriffe auf Jugendliche, die beim Konsum von Alkohol oder Marihuana erwischt wurden. Militante Straight Edger bekannten sich zu den Gewalttaten und hinterlegten Botschaften wie “Our way or no way”.
Ein Grossteil der Bewegung lehnt einen solchen Fundamentalismus aber entschieden ab. “Es geht ja gerade darum, selbst zu denken, selbst zu entscheiden, wie man leben will.” Den anderen Straight Edge aufzuzwingen oder sie zu massregeln, zielt an der ganzen Idee vorbei, davon ist xSidx überzeugt. Was nicht heisst, dass Straight Edge nur Sache des Geschmacks ist. Er sieht das auch politisch: “Diese Tabakkonzerne, der ganze Dogenhandel: alles dreht sich ums Geld, und das auf Kosten der Gesundheit anderer. Ein schmutziges Geschäft. Wenn du Straight Edge bist, setzt du ein Zeichen: Du willst nicht teilhaben an irgendwelchen Mechanismen, die zerstörerisch sind und Abhängigkeiten schaffen.”

Keine Drogen, keine Tierausbeutung
Wie viele andere Straight EdgerInnen ist auch xSidx über die Musik dazugekommen. Die Szene hier in der Schweiz sei eher klein, man kennt sich, trifft sich an Konzerten. xSidx hört Hardcore, mag Refused, Purified in Blood, Maroon und findet auch die CH-Band Unveil gut. Prägend waren für ihn aber Youth of Today und Earth Crisis: “Die haben der Sache einen Dreh gegeben, haben den Straight Edge erweitert: Toleranz, Verantwortung und Gerechtigkeit hört nicht beim Menschen auf, es geht auch darum, die Ausbeutung der Tiere und des Planeten zu stoppen!”

Tatsächlich spielten diese Themen in den ersten Jahren des Straight Edge keine Rolle. Mit dem 1988 auf dem Album We’re Not in This Alone erschienenen Song “No More” von Youth of Today setzte die Wende ein: Wer Straight Edge ist, soll seinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten. Dazu zählt auch die Sache mit den Tieren, so die Botschaft von Youth of Today: “Meat eating, flesh eating, think about it.” Fortan gehörten Tierrechte zu den zentralen Elementen des Straight Edge und Konsumkritik beschränkte sich nicht mehr auf ein drogenfreies Leben, sondern spiegelte sich auch in einem veränderten Essverhalten. Man verzichtete auf Fleisch, viele Straight EdgerInnen wurden vegan.
So wurde der Vegan Straight Edge in den 1990ern zum wichtigsten Ableger der Bewegung. Als besonders bedeutsam gilt Earth Crisis aus Syracuse, New York, für viele die Vegan-Straight-Edge-Band schlechthin. In ihrem 1995 veröffentlichten Song “New Ethic” heisst es: “Animals’ lives are their own and must be given respect / Reject the anthropocentric falsehood that maintains the oppressive hierarchy of mankind over the animals / It’s time to set them free.”
Das sieht auch Dänu, 21, so. “Woher haben wir eigentlich das Recht, uns über die Tiere zu stellen?” Er ist seit drei Jahren Straight Edge, die Idee des Respekts sich selbst und anderen Wesen gegenüber sei absolut zentral. Da habe er sich zwangsläufig auch mit unserem Umgang mit Tieren befasst. Zuerst war Dänu Vegetarier, musste aber bald einsehen, dass er auch mit dem Milch- und Eierkonsum den Tieren etwas wegnimmt, das doch ihnen selbst gehört.
Für Serge ist der Veganismus eine “logische Konsequenz” aus dem Straight Edge: “Ich wollte keine Dinge aus ausbeuterischer Produktion konsumieren. Dazu gehörten Alkohol, Tabak und andere Drogen. Dann fragte ich mich: Wo gibt es noch andere Formen der Ausbeutung? Und kam automatisch auf die Tiere. Wenn du gegen Ausbeutung bist, ist vegan normal: das ist Straight Edge, einfach konsequent durchgedacht.”
Ist Straight Edge also doch mehr als ein Lifestyle? “Das mit den Drogen muss jeder selbst wissen, die Sache mit den Tieren hat eine andere Dimension: da geht’s um Gerechtigkeit!”, sagt xSidx. Auch er lebt seit Jahren vegan, ist in der Tierrechtsbewegung aktiv, geht an Demos, verteilt Flyer, postet im Internet. “Ich käme nicht auf die Idee, auf die Strasse zu gehen und andere vom Kiffen abzuhalten, aber ich finde es wichtig, die Leute darüber zu informieren, was wir mit den Tieren anstellen.”
Das sehen nicht alle so. Ian MacKaye mag über Veganismus eigentlich gar nicht reden, das werde nullkommaplötzlich dogmatisch. “Ich bin misstrauisch gegenüber dem kultischen Aspekt dieser Ernährungsweise”, sagt MacKaye in einem Interview. “Ich bin seit 25 Jahren Veganer und denke darüber nur selten nach, denn es ist für mich verdammt einfach, vegan zu leben, und ich weiss genau, was ich essen will und was nicht. So simpel ist das.” [1]

Konsequent, konsequenter, hardline
Von einem “logischen Schritt” der ursprünglichen Idee des Verzichts auf Drogen hin zum Verzicht auf tierliche Produkte spricht aber auch MacKaye. Dennoch sind Tierrechte und Veganismus in den Songs seiner jetzigen Band Fugazi kein Thema. Was von einigen Kids offenbar scharf kritisiert wird.
MacKaye kennt diese Haltung aus den 1990er Jahren nur zu gut, wie er in Gabriel Kuhns Buch Sober Living for the Revolution erzählt. [2] Damals hatte sich in den Staaten die Hardline-Bewegung herausgebildet, eine radikalisierte Form des Vegan-Straight-Edge, die vor allem von Bands wie Raid und Vegan Reich propagiert wurde.

Letztere veröffentlichten 1990 zusammen mit ihrer Single “Hardline” ein Manifest, in dem steht, “dass alles Leben heilig ist und ein Recht darauf hat, ungehindert seiner natürlichen Vorsehung zu folgen”. Unschuldiges Leben soll nicht verletzt werden, “deshalb dürfen keine Tierprodukte (Fleisch, Milch oder Eier) konsumiert werden”. Aber das ist nicht alles. In Übereinstimmung mit den Hardline-Prinzipien eines anscheinend “reinen, natürlichen Lebens” schlugen sich Teile der Szene auf die Seite militanter AbtreibungsgegnerInnen. Auch Schwulenfeindlichkeit wurde zum Thema. Zudem sprachen sich manche Hardliner für direkte Aktionen aus, Gewalt wurde nicht prinzipiell ausgeschlossen: “Wirkliche Hardliner müssen sich darum bemühen, den Rest der Welt von ihren Ketten zu befreien. Manchmal wird das heissen, Leben zu retten; manchmal wird das heissen, Gerechtigkeit walten zu lassen in Bezug auf jene, die Leben zerstören”, so die Autoren des Hardline Manifesto. [3]
Zwar ist der Anteil der Hardliner gering, doch war ihr Einfluss in den 1990er Jahren nicht zu unterschätzen, wie der Amerikaner Kurt Schroeder meint: “Hardliner und Hardline-Bands hatten am Anfang eine ungeheure Wirkung auf die Vegan-Straight-Edge-Bewegung.” [4] Allerdings gab es mit linken Bands wie Chokehold, Refused, By the Grace of God oder Point of No Return auch deutlichen Widerstand gegen diese Ideologisierung und selbstgerechte Moralisierung des Straight Edge.
Heute ist der von Vegan Reich zelebrierte Hardline bedeutungslos geworden, viele ehemalige Hardliner hängen dem Islamismus an und folgen damit dem Vorbild von Sean Muttaqi, ehemals Frontmann von Vegan Reich und Gründer der radikal-islamistischen Gruppe Ahl-i-Allah.

Kali Yuga für Hardcore
Immer wieder wurde Straight Edge mit Ideologien verknüpft, bei denen man gemeinsames Gedankengut vermutete. Dazu gehört auch der “Krishnacore”. Schon Ende der 1980er Jahre waren Einflüsse von Hare Krishna auf den Hardcore spürbar, wenig später wandten sich Ray Cappo und Porcell von Youth of Today der Sekte zu. Ihre spätere Band Shelter wurde zusammen mit 108 und Prema zum Aushängeschild der Bewegung.
Für den Straight Edger Porcell lag der Zusammenhang mit den Kali Yuga-Grundsätzen von Hare Krishna auf der Hand: Verzicht auf Fleisch, Fisch und Eier, Abstinenz von jeglichen Drogen, Verbot von Suchtspielen, die restriktive Haltung gegenüber dem Geschlechtsverkehr – “die grundlegenden ethischen Lehren der Krishna-Bewegung praktizierte ich bereits. Es ging eher darum zu verstehen, worin die wirkliche Bedeutung liegt, Straight Edge zu sein. Der Sinn ist es, deinen Kopf nicht mit Dingen zu füllen, die deine Fähigkeit zu denken einschränken. Gut. Aber daraus musst du auch Nutzen ziehen – du musst denken! Straight Edge ist nur ein Mittel zum Zweck.” [5]
Rückwirkend dürfte Krishnacore, der 1993 seinen Höhepunkt erreichte, eher ein modischer Trend gewesen sein. Tatsächlich gibt sich ein Grossteil der Straight EdgerInnen entschieden nicht religiös. Organisierten Glaubensgruppierungen begegnet man eher mit Misstrauen, Religion wird als weitere Form der Fremdbestimmung aufgefasst, die es im Straight Edge gerade zu überwinden gilt.

Aussen Straight Edge, innen braun
Für xSidx haben solche Vereinnahmungen des Straight Edge etwas Gefährliches. “Früher oder später sind all diese Ideologien elitär. Dann schlagen sie ins Extrem um. Und dann wird ausgegrenzt.” Der überzeugte Vegan-Straight-Edger verweist auf den Schwulenhass der Hardliner und schüttelt den Kopf: “So was kann ich weder verstehen noch tolerieren. Straight Edge heisst doch: Respektiere dich selbst und alle anderen!”

Ähnlich reagiert Mike, wenn es um die Unterwanderung der Szene durch Rechtsradikale geht. “Sie nennen sich Straight Edge, schwenken antispe-Fahnen, dozieren über Tierrechte und Veganismus. Und hetzen gleichzeitig gegen Juden, Andersfarbige, schwafeln von “natürlicher Ordnung” und “Halte dein Blut rein”. Kompletter Schwachsinn!” Mike ist seit gut 10 Jahren Straight Edge, lebt vegan, treibt viel Sport und engagiert sich in der Tierrechtsbewegung. Dass Rechtsradikale vermehrt Themen wie Tierrechte oder Veganismus besetzen und sich so in die Szene “einschleusen”, sei ein ernstes Problem. “Die sehen nicht mehr aus wie Neo-Nazis, laufen rum wie Autonome, hören Hardcore, sind anti-kapitalistisch und gegen Globalisierung. Mit dieser Masche holen sie die Kids ab und texten sie dann mit braunem Zeugs zu.”
Tatsächlich ist rechte Musik modern geworden. [6] Vorbei die Zeiten, als die amerikanische Straight-Edge-Band Blue Eyed Devils Mitte der 1990er “Ich werde für meine Rasse und Nation kämpfen, Sieg Heil!” grölte und auf Booklets mit Bildern vom Führer von sich reden machte. “Um neue Leute zu begeistern, musst du Musik und Texte machen, die sich ihrem Stil anpassen”, erklärt die rechte Hardcore-Band H8Machine in einem Interview. [7]
Was offenbar klappt: “Capitalism kills – the animals – the mankind – the nature – the world”. Das könnte in einem linken Manifest stehen, die Zeilen stammen aber von Path of Resistance. Die Kapelle aus Rostock spielt NSHC, nationalsozialistischen Hardcore, oder genauer: Hatecore. Der Ausdruck kommt zwar von der links-alternativen US-Band SFA (stands for anything), ist heute aber vorwiegend für Neonazi-Hardcore reserviert. Der Straight-Edge-Ableger der Szene heisst “Hate Edge”, das Etikett lieferte die rechtsextreme Band Total War, als sie 2006 die CD “Straight Edge Hate” veröffentlichte.
Angesagten HC-Lifestyle, der auf Hakenkreuze und platte Hassparolen verzichtet, liefern auch Moshpit, Brainwash oder Daily Broken Dream aus Magdeburg, ehemals Race Riot und Vorläufer rechtsextremer Straight-Edge-Bands in Deutschland. Ihre Heilsbotschaften haben viel mit gesundem Körper und gesundem Geist zu tun, mit Tier- und Umweltschutz, sie sind geschickt verpackt und werden allenfalls auf Booklets und in Szene-Interviews mit rechtem Gedankengut unterfüttert.
“Ich finde es etwas abstossend, wenn Leute, die nationale Symbolik auf den Klamotten (oder in ihrem Suffgerede) verbreiten, gleichzeitig nach Alk und Kippen stinken und kaum gerade laufen können”, kommentiert zum Beispiel der Frontmann der NS-Straight-Edge Band Anger Within ihren Song “Alcoholic” und fügt hinzu: “Irgendwie ist das nicht das Bild des deutschen Freiheitskämpfers, das ich aus alten Büchern und Filmen im Hinterkopf habe.” [8]
Ähnlich plakativ tönt es aus den Staaten, wo die Organisation Terror Edge seit Jahren gegen Tabak, Drogen und Alkohol mobil macht: “A poison free life for NS worldwide!”, lautet die Parole. Man will “weisse Männer und Frauen” vereinigen für ein Leben ohne Gift. Auch in Deutschland wird auf rechter Basis für Straight Edge geworben, so etwa im Projekt media pro patria, wo den Kids über Youtube die Grundlagen eines gesunden, reinen Lebens gepredigt werden – alles fein säuberlich in konsumkritische und tierrechtlerische Phrasen verpackt.

Back to the roots
Für manche ist dieses rechtsextreme Andocken an ein drogenfreies Leben, Veganismus oder Tierrechte kein Zufall. Schon Mitte der 1990er Jahre brandmarkte die Journalistin und Ex-Grüne Jutta Ditfurth in ihrem Buch Entspannt in die Barbarei die Umwelt- und Tierrechtsbewegung der letzten Jahrzehnte mitsamt veganen Utopien pauschal als “Ökofaschismus”. In diesen Ideologien kommen die Menschen als soziale Wesen nicht mehr vor, stattdessen würden sie als “Erdparasiten” betrachtet und auf die gleiche Stufe mit den Bakterien gestellt: ein Beleg für deren “Hass auf Menschen” und Nährboden für eine neue Rechte.
Wesentlich differenzierter sieht das Oliver Geden in Rechte Ökologie und kehrt die These quasi ins Gegenteil um: Umwelt- und Tierschutz seien erst in den 1970er und 80er Jahren zur Sache der Linken geworden, die Wurzeln der Bewegung dagegen sind seit jeher tiefbraun.
So mag es nicht erstaunen, wenn heutige NS-Bands in einschlägigen Foren wieder von den “Nasen” reden, die für den weltweiten Rauschgifthandel verantwortlich seien und damit an Propandaschriften wie “Der Jude als Verbrecher” von 1937 anschliessen. Oder wenn sie ihre Öko-Parolen mit dem “Reichsnaturschutzgesetz” von anno 1935 assoziieren und auf verklärten Heimatschutz reduzieren, wenn sie mit dem Beispiel des Schächtens für Tierrechte werben oder mit einer übertrieben anti-kapitalistischen Attitüde gegen die weltweite Massentierhaltung und für den Erhalt heimischer Tierrassen eintreten.

Aufgeklärter Straight Edge: politisch, nicht ideologisch
Mit dem Problem, wie weit Toleranz reichen darf, wenn es um die “gute Sache” geht, ist gerade die Tierrechtsbewegung immer wieder konfrontiert. Der Streit um das tierschützerische Engagement der Sekte Universelles Leben (UL) beispielsweise ist ein Dauerbrenner und spaltet die Szene: Während manche das rein pragmatisch angehen und auf “Hauptsache für die Tiere” setzen, lehnen andere diskriminierendes Gedankengut kategorisch ab, weil mit den Prinzipien der Bewegung unvereinbar. [9]
Diese Ansicht vertritt auch Mike: “Straight Edge, Tierrechte, Veganismus: alles beruht auf dem Grundsatz der Gleichheit, Toleranz, Akzeptanz. Also Respekt für alle. Das Gegenteil davon ist: abwerten, ausgrenzen und hetzen gegen Schwule, gegen Juden, gegen Andersfarbige und all dieser Fascho-Quatsch.” Serge pflichtet bei. Er sympathisiert zwar mit den biozentrischen Ansichten gewisser Hardliner, aber mit einer “veganen Diktatur” oder mit der Homophobie einiger dieser Bands kann er definitiv nichts anfangen, findet das abstossend.
Straight Edge und Neonazis, das sei ein “Widerspruch in sich”. xSidx räumt aber auch ein: “Wer Straight Edge zu einer Religion mit drei oder fünf Geboten macht, zu einem Kodex für das absolut Reine, darf sich nicht wundern, wenn Rechtsextreme aufspringen.” Darauf brauche es eine Antwort, einen wirklich aufgeklärten Straight Edge: Verantwortung, Respekt, Unabhängigkeit, Solidarität – das seien die Themen. “Und ja: Tierrechte, Ökologie. Straight Edge muss politisch sein, aber ohne dabei konservativen Ideologien zu verfallen.”
Für Ian MacKaye, Urgestein des Straight Edge, beginnt das Ideologische schon bei der Frage: “Bist du noch Straight Edge?”. Das kommt ihm vor wie ein Verhör, denn der Unterton sei immer: “Und was, wenn nicht?” [10] Letztlich ist Straight Edge für den bald 50-Jährigen nur noch ein Etikett, es komme darauf an, wie man lebt. Und das müsse jeder für sich entscheiden. Auch für xSidx war es zu Beginn cool, für seine Ideen einen Namen zu haben: “Jetzt gehört Straight Edge einfach zu meinem Leben.”

Fussnoten
[1] “Interview: Ian MacKaye & Dischord Records”, Ox-Fanzine 91/2010.
[2] “Interview with Ian MacKaye”, in: Sober Living for the Revolution, ed. G. Kuhn, Oakland 2010, S. 38ff.
[3] “Hardline Manifesto 1990″, zit. in: G. Kuhn, Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010, S. 25ff.
[4] “Interview with Kurt Schroeder”, in: Sober Living for the Revolution, ed. G. Kuhn, Oakland 2010, S. 150.
[5] Zit. in: G. Kuhn, Straight Edge: Geschichte und Politik einer Bewegung, Münster 2010, S. 22f.
[6] Siehe dazu die Artikel “We play NS-Hardcore! Die Mythisierung rechten Gedankenguts in der Musik” (2008) von Rainer Fromm und “Drogenfrei und deutsch dabei” (2008) von Jens Thomas.
[7] Aus einem Interview mit dem Fan-Magazin Violence, Nr. 11, o.J.
[8] Rufe ins Reich, Doppelausgabe 3/4, o.J., S. 76.
[9] Dazu E. Franzinelli, “Hauptsache für die Tiere”, in: Tierbefreiung 67/2010.
[10] “Interview: Ian MacKaye & Dischord Records”, Ox-Fanzine 91/2010.
© 2011 tier-im-fokus.ch (tif)

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