»In der Türkei bleiben will eigentlich keiner –
Tayfun Guttstadt spricht zwischen Antalya und Istanbul
mit ›Geflüchteten zwischen Syrien und Europa‹
1,5 Millionen syrische Flüchtlinge sollen derzeit in der Türkei leben. Der Autor nennt sogar die Zahl von 3,5 Millionen, was durchaus stimmen kann, wenn man jene Flüchtlinge zu den aktuellen Residenten hinzuzählt, die die Türkische Republik inzwischen wieder Richtung Nordwesten verlassen haben. Exakte Zahlen hat keiner, haben vielleicht nicht einmal die türkischen Behörden. Auf alle Fälle halten diese sich bedeckt, definieren den Status der Ankömmlinge nicht so exakt, wie es das deutsche Bundesamt für Flüchtlinge täte, auch um deren Rechte nach Gutdünken festlegen zu können.
Doch wie sehen sich die Flüchtlinge selbst? Der Hamburger Islamwissenschaftler Tayfun Guttstadt, der seit einigen Jahren in der Türkei lebt, befragte viele von ihnen, wollte wissen, vor wem oder was sie konkret geflohen sind; wo sie hin wollen; wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellen. Auch wenn die Auswahl der Gesprächspartner Guttstadts wohl mehr zufällig erfolgte – ihre Antworten scheinen durchaus ein repräsentatives Spektrum dieser temporären syrischen Parallelgesellschaft in der Türkei abzubilden.
Das Buch ist da am anschaulichsten, wo den befragten Menschen Platz eingeräumt wird, über den Krieg, seine Ursachen und Folgen laut nachzudenken. Das tun hier sowohl die Syrer selbst als auch Türken, die Helfer, wie sie im Buch genannt werden. Der Autor hat sie offensichtlich erfolgreich ermutigt, ohne sich selbst einzubringen. Es ist wie am sprichwörtlichen Stammtisch, der in Anatolien vielleicht ein Teehaus ist.
›Die EU spielt mit falschen Karten, oder diplomatisch ausgedrückt: Sie treibt ein hinterlistiges und hässliches Spiel‹, sagt Ali Denizci aus Istanbul. ›Den Krieg hat Europa begonnen, aber die Türkei nimmt die Flüchtlinge auf.‹ Dass die Türkei nicht nur nicht unschuldig am Ausbruch des Syrien-Krieges ist, sondern ihn maßgeblich mit ausgelöst hat und selbst Kriegspartei ist, würde Denizci vermutlich empört zurückweisen.
Denizci hat auch noch andere Ideen: ›Im schlimmsten Fall schicken wir die Flüchtlinge mit Flugzeugen zu euch und werfen sie mit Fallschirmen ab, dann könnt ihr euch drum kümmern.‹ Er meint das nicht so, schließlich ist er ein ›Helfer‹.
Guttstadt lässt die Leute ausreden, sich regelrecht ausspinnen und verzichtet auf korrigierende, relativierende Bemerkungen, auch nicht durch irgendwelche Politiker. Und das ist gut so. Das macht das Buch wohltuend authentisch.
Aber Gökhan, der Katastrophenhelfer, darf ein bisschen politischen Klartext einfließen lassen. Er ärgert sich, dass sowohl die EU als auch die türkische Regierung in der Flüchtlingskrise nur an ihren eigenen Vorteil dächten. Die türkische Bevölkerung interessiere vor allem, ob sie bald ohne Visum in die EU einreisen könne. Das Schicksal der Flüchtlinge berühre niemanden.
Die Flüchtlinge selbst scheinen derlei Ignoranz teilweise Vorschub geleistet zu haben. Guttstadt gibt ihre teils erschreckend unbedarften Urteile über die Ursachen dessen, was ihnen widerfahren ist, bisweilen in ihrer ganzen Schlichtheit wieder.
Die Syrer bleiben bei Guttstadt, indem er uns nur ihre Vornamen nennt, anonym. Was sie eint: Sie wissen nicht recht, warum eigentlich Krieg ist, den sie nie gewollt haben. Jetzt wollen sie Frieden – ja, natürlich, aber erst einmal Arbeit, irgendwo, hier, in Europa … Auf Dauer in der Türkei bleiben will eigentlich keiner.« – Roland Etzel, neues deutschland, 26. November 2016