Lorettas Leselampe: Rezension: Susanne Spindler: Corpus delicti.

UNRAST VERLAG Pressestimmen Lorettas Leselampe: Rezension: Susanne Spindler: Corpus delicti.

‘Ausgangspunkt der Arbeit, mit der Spindler promoviert hat, ist ein DFG-Projekt der Uni-Köln über inhaftierte Jugendliche mit Migrationshintergrund, an dem die Autorin beteiligt war. Damals hat man „Kriminalitätskarrieren“ anhand von biographischen Interviews analysiert. Ein Ergebnis der Studie war, so Spindler:
„Die Inhaftierung bedeutet nicht, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund ‚krimineller‘ sind als andere, sondern zeigt vielmehr, dass sie auf Grund von Ethnisierungs- und Kriminalisierungsprozessen eher in der Haft landen.“
Es fiel auf, dass im Untersuchungszeitraum (1999-2002) nur junge Männer, keine einzige junge Frau mit Migrationshintergrund einsaß. Soweit, so Necla Kelek, könnte man meinen. Macho, ick hör dir trapsen. Insofern bot es sich an, einen Blick auf die Konstruktion von Maskulinität zu werfen. Spindler wertet nun also 11 der für 23 das Projekt geführten Interviews noch einmal aus der Geschlechterperspektive aus und kommt dabei zu interessanten Schlussfolgerungen. Warum der Fokus auf der Biographie? Ist das nicht zu individualisierend? Dazu Spindler:
„Die biographische Rekonstruktion rückt das Individuum in den Mittelpunkt, um Vergesellschaftungsprozesse zu erfassen.“
Neval Gültekin (2003) hat so eine Verflechtung der Sichtweise von Einwanderungsgesellschaft und Einwanderern ‚Doppelperspektivität‘ genannt. Dazu Spindler:
„und diesen Blick auf Migrationsphänomene können ausschließlich MigrantInnen geben.“

 

Sie macht klar, warum eine biographisch orientierte Studie durchaus sinnvoll sein kann:
„Geschichte und Erfahrungen des Subjekts sind in Zusammenhänge eingebettet, die Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheiten ermöglichen oder verschließen /…/ Die Biographieforschung lenkt so den Blick vom Individuum hin zu gesellschaftlichen Zusammenhängen und Ungleichheiten.“

(Vergleiche dazu auch den Beitrag von Ursula Apitzsch zu Biographien im aktuellen argument Sonderband „Migrantinnen“: „Biogaphie als Ort transnationaler und transkultureller Räume ist ein Schnittpunkt kollektiver Konstitution und individueller Konstruktion.“ (374) Sie will Biographien als „Ort“ transnationaler Räume bezeichnen, während Helma Lutz vorschlägt, Biographie „nicht als einen Ort, sondern als eine ‚Artikulation‘ zu verstehen (Hall, Laclau, Mouffe) )

Doch zurück zu „Corpus delicti“. Spindlers theoretischer Ausgangspunkt ist Foucault Konzept der Gouvernementalität. Das Konstrukt des Nationalstaates bringt Mechanismen der Ausgrenzung mit sich, von denen insbesondere Migrantinnen betroffen sind. Sie werden marginalisiert und Opfer rassistischer Zuschreibungen.

Welche Schlussfolgerungen zieht Spindler nun aus der Auswertung der Interviews?

„Zum Ersten leben die Jugendlichen oft in gewalttätigen Formationen, die sich in der ein oder anderen Form kontinuierlich durch das Leben bis in das Gefängnis hinein verfolgen lassen. Flüchtlinge machen nach manchmal traumatischen Erfahrungen im Herkunftsland Erfahrungen der Ohnmacht als Asylbewerber in der Bundesrepublik. Hier sind sie mit übermächtiger struktureller Gewalt konfrontiert, leben oft jahrelang in einer Situation der Unsicherheit und des provisorischen Lebens.“

Alle Jugendlichen erzählen in den Gesprächen vom alltäglichen Rassismus, von Diskriminierung und vom Leben in Vierteln, die schon von vornherein stigmatisiert sind.
Spindler weiter:
„In einigen Biographien zeigt sich die Erfahrung sexualisierter Gewalt, auch außerfamiliär in pädosexuellen Milieus.“
Das Individuum erfährt also eine Reduzierung auf den Körper.
„Zudem verbringen sie einen großen Teil ihrer Zeit auf der Straße, wo das Leben in Cliquen, in Kleinkriminalität und Drogenmilieus organisiert wird, auf die wiederum die Kontrollorgane ein besonderes Augenmerk haben.“

Darüber hinaus leben diese Männer, so Spindler, oft Formen von Männlichkeit aus, die oft gewalttätig ist. Dies passiert in männerbündischen Zusammenschlüssen, die oft auf „ethnischer“ Zugehörigkeit basieren. Ethnizität ist hier aber weniger als kulturelles Merkmal zu sehen
„als vielmehr um einen Solidaritätsverbund von den als ‚Ausländern‘ Bezeichneten, die sich durch ‚doing ethnicity‘ in auffälligen Formen präsentieren und inszenieren.“
Und drittens tragen Institutionen und Milieus, Polizei oder im Knast, zu einer geschlechtlichen Positionierung bei.

Spindlers Studie ist deshalb so wegweisend, weil sie sich von kulturalistischen Erklärungsmustern verabschiedet. Ethnische Identität oder Religion spielen in der Ausprägung von Männlichkeit keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist statt dessen die von Gewalt durchzogene Lebenswelt der Jugendlichen: „psychische und strukturelle Gewalt, erlittene und ausgeübte Gewalt.“ Weil ihnen eine gesellschaftlich anerkannte Männlichkeit durch mangelnde Bildungschancen verwehrt wird, werden sie zu gewalttätigen Machos gestempelt, auf ihre Körper reduziert, wird ihre „Seele zum Gefängnis des Körpers“, wie Foucault einmal schrieb.

Dieser Ansatz hebt sich wohltuend von den kulturalisierenden Beiträgen ab, die derzeit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit abgefeiert werden. Susanne Spindler hat, insbesondere für den zukünftigen Umgang mit den Kategorien Gender und Ethnizität, einen wichtigen Forschungsbeitrag geleistet.

Rezensiert von Dagmar Brunow, Lorettas Leselampe im FSK 93,0 leselampe@fsk-hh.org
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Redaktion: Dagmar Brunow, Ole Frahm, Angela Delissen
Erstausstrahlung (FSK):
Sa, 28. Oktober 06, 20-23 Uhr