»Algerien geriet in den letzten Jahrzehnten immer wieder ins Blickfeld der Linken, allerdings unter sehr unterschiedlichen Konstellationen. In den 1960er Jahren war der Algerienkrieg das Beispiel eines antikolonialen Befreiungskampfes, der trotz der äußerst brutalen Bekämpfung durch die französische Kolonialmacht letztlich erfolgreich war. Durch Frantz Fanons ›Die Verdammten dieser Erde‹ gewann dieser Kampf paradigmatischen Charakter. Nach der Unabhängigkeit 1962 galt Algerien lange als Beispiel eines relativ erfolgreichen postkolonialen Entwicklungsmodells, das im Sinne eines ›dritten Weges‹ zwischen den Blöcken zu lavieren verstand. Über die antidemokratischen Züge der staatsautoritären Entwicklungsdiktatur der FLN sahen nicht wenige Dritte-Welt-Bewegte hinweg.
Als Ende der 1980er Jahre der Bankrott dieses Modells immer offensichtlicher wurde, 1988 eine Jugendrevolte den FLN-Staat erschütterte und in der Folge das immer stärkere Auftreten der islamistischen Bewegungen in einen blutigen inneren Krieg mündete, war die Wahrnehmung der hiesigen Linken gespalten. Der linke Mainstream verklärte entweder den Islamismus als soziale Opposition oder spielte dessen gerade in Algerien offenbaren mörderischen und regressiven Qualitäten herunter. Eine Minderheit der Linken sezierte zwar schonungslos und zurecht die antiemanzipatorische Barbarei der islamistischen Banden, tendierte dabei aber manchmal dazu, jede Kritik an den Folterpraktiken und der Korruptheit des algerischen Regimes als ›Appeasement‹ gegenüber den Islamisten abzuqualifizieren.
Als die schlimmste Eskalation der Gewalt in Algerien Ende der 1990er Jahre überwunden war und sich schließlich im Gefolge des 11. September die linken Auseinandersetzungen auf andere Felder verlagerten und dort ideologisch aufheizten, geriet Algerien immer mehr aus dem Blickfeld. Dabei hätte eine sachlich begründete und ideologiekritisch reflektierte Aufarbeitung der algerischen Tragödie durchaus einiges zu den Debatten um Islamismus und Terror, Antiimperialismus und Antisemitismus sowie die Folgen kulturalistischer und nationalistischer Identitätspolitiken beitragen können.
Mit seinem Buch ›Algerien – Frontstaat im globalen Krieg?‹ hat sich nun mit Bernhard Schmid ein eifriger Teilnehmer besagter Debatten des Themas angenommen. Der Titel des Buches erweist sich dabei glücklicherweise als irreführend. Schmid geht auf die Frage nach einer Frontstellung Algeriens in der Konfrontation zwischen globalem Jihadismus und dem ›Krieg gegen den Terror‹ erst am Ende des Buches kurz ein und weist bipolare Simplifizierungen zurück. Im Hauptteil des Buches fächert Schmidt hingegen sehr materialreich die Geschichte Algeriens seit der Unabhängigkeit auf. Er macht den Weg in den islamistischen Bürgerkrieg als Scheitern einer Dekolonisation im Sinne umfassender gesellschaftlicher Emanzipation sichtbar.
Dass sich Schmid dabei durchaus in einem Analyserahmen bewegt, der dem klassischen linken Internationalismus verpflichtet ist, gereicht dem Band nicht zum Nachteil. Denn diese Perspektive erschöpft sich keineswegs darin, Algerien als Opfer neokolonialer Abhängigkeiten darzustellen. Die in den Verträgen von Evian festgeschriebene fortdauernde Abhängigkeit der algerischen Ölindustrie vom französischen Ex-›Mutterland‹, der konkurrierende Einfluss amerikanischer Ölinteressen und die Kosten technologischer Beratung aus anderen führenden kapitalistischen Industrieländern (darunter nicht zuletzt Westdeutschland), schließlich die wachsende Staatsverschuldung und die daraus folgenden neoliberalen Imperative seitens der internationalen Finanzagenturen wie dem IWF: all das spielt natürlich eine wichtige Rolle in Schmids Darstellung des gescheiterten Entwicklungsmodells einer über die ›Ölrente‹ kapitalisierten Industrialisierung durch den FLN-Staat.
Der Schwerpunkt des Buches liegt allerdings auf den internen Akteuren. Schmid beschränkt sich keineswegs auf eine kritische Darstellung der FLN-Nomenklatura als korrupte ‘Staatsklasse’ mit autoritärem Herrschaftsstil, welche die nach der Unabhängigkeit aufkeimenden Versuche gesellschaftlicher Selbstverwaltung schnell abwürgt und spätestens nach dem Putsch gegen Ahmed Ben Bella 1965 unter Houari Boumedienne eine Entwicklungsdiktatur installiert. Schmid zeigt auch auf, wie sich trotz der in ihrem frühen und wichtigsten Manifest, der Erklärung von Soumam, festgeschriebenen laizistischen Ausrichtung der FLN bereits während des Befreiungskampfes ‘islamisch’ artikulierte Identitätsbezüge repressiv auswirken. Etwa, indem in FLN-kontrollierten Zonen der Konsum ‘unerlaubter Genussmittel’ als ‘unislamisches’ Verhalten mit grausamen Körperstrafen geahndet wurde.
Als direkt nach der Unabhängigkeit in Teilen des Landes und auch der Hauptstadt teilweise von Imamen angeführte islamische Mobs ausschritten, um ihrem Triumph durch vor allem gegen die sogenannten ‘Filles du 13 Mai’ (Frauen, die am 13. Mai 1958 bei einer von De Gaulle organisierten pro-französischen Kundgebung symbolisch ihren Schleier abgelegt hatten) gerichteten ‘Moralisierungsaktionen’ Ausdruck zu verleihen , wurde dies zwar von der neuen Regierung rasch unterbunden. Die Begebenheit ist aber insofern eine Schlüsselszene, als ‘Moralisierungskampagnen’ und die Islamisierung des Schulunterrichts später zum festen Bestandteil einer ‘arabo-islamischen’ Identitätspolitik wurden. Gerade die im bildungs- und kulturpolitischen Bereich einflussreichen Strömungen innerhalb des FLN-Regimes wandten sich mit ‘islamischen Werten’ gegen die nominalsozialistische Ausrichtung der frühen FLN-Politik wie die Anläufe zu einer Agrarreform. Sie versuchten damit nicht zuletzt die Krisen der postkolonialen Entwicklung in Algerien ideologisch zu ‘lösen’. Das richtete sich vor allem gegen die algerischen Frauen. Deren über die gesellschaftliche Modernisierung und die Beteiligung am Befreiungskampf erreichten Emanzipationserfolge wurden sukzessive bis zu ihrer weitgehenden Entmündigung durch das berüchtigte Familiengesetz von 1984 zurückgedreht.
Sehr gut herausgearbeitet wird von Schmid auch, wie durch die nationalistische und kulturalistisch auf ‘Authentizität’ fixierte Arabisierungspolitik eine arabischsprechende Generation von Schul- und Hochschulabgängern geschaffen wurde. Diese blieb in den weitgehend frankophonen modernen Wirtschaftssektoren des Landes chancenlos und wurde so zum idealen Rekrutierungsfeld für islamistische Ideologen. Dass es sich bei den häufig aus Ägypten oder Syrien ins Land geholten Arabischlehrern oft um exilierte Anhänger der Muslimbrüder handelte, spielte gegenüber den ideologisch ‘hausgemachten’ Faktoren eher eine Nebenrolle.
So konstituierte sich bereits Ende der 1970er Jahre eine islamisierte Gegenelite, die sich ‘im eigenen Land wie in einer Kolonie fühlt’ und, so Schmid, die ”Rückeroberung der Hoheit im eigenen Land’ (…) mit der Idee einer Durchsetzung ‚arabisch-islamischer Werte’ verkoppelt’. Dies stellte sich bereits Ende der 1970er Jahre so dar, dass die islamistische Bewegung an den Unis mit äußerst gewalttätigen ‘Reinigungsaktionen’ Linke und angeblich ‘unanständige’ Studentinnen terrorisierte, letztere sogar mit Säureanschlägen. Obwohl Schmid am reaktionären und gegen jede gesellschaftliche Emanzipation gerichteten Charakter der aufkommenden islamistischen Strömungen in Algerien keinen Zweifel aufkommen lässt, erscheint deren Karriere doch manchmal etwas zu sehr im Zusammenhang eines ”Kolonialisierungsschocks’ als Erfahrungsgrundlage, die seinen Erfolg zusammen mit anderen Faktoren erklärt’.
Durch diesen kolonialen Hintergrund unterscheidet sich laut Schmid der Islamismus vom europäischen, in eine kolonial-expansionistische Tradition eingebetteten Faschismus. Als ‘moderne Massenbewegung’ mit ‘einem reaktionär-totalitären und identitären Charakter’ weise der Islamismus ansonsten einige Schnittpunkte zum Faschismus auf. Zu fragen ist allerdings, ob dem Islamismus gerade als moderner politischer Bewegung nicht Qualitäten zukommen, für deren Beurteilung die realgeschichtlichen Unterschiede eher sekundär sind. Die Missdeutung der Krise nachholender kapitalistischer Modernisierung als Folge verderblicher kultureller Einflüsse des Westens, auf die der Islamismus mit dem ‘authentischen’ Heilsversprechen einer religiös begründeten organischen Gemeinschaftsutopie antwortet, weist enge Parallelen zum völkischen Denken des Nationalsozialismus und seiner Vorläufer auf.
Schmid verweist zwar auf die Rezeption europäischer kulturpessimistischer Gegenaufklärer wie Gustave Le Bon oder Oswald Spengler bei frühen Theoretikern des algerischen Islamismus, auch auf den verschwörungstheoretischen Antisemitismus, der aus dem 1982 in Algier verabschiedeten Quasi-Gründungsmanifest der ‘Islamischen Rettungsfront’ FIS spricht. Aber er scheint zu verkennen, dass die dort enthaltene Rede von einem ‘Kartell (…), das vom internationalen Kommunismus, vom Freimaurertum, von der Judenheit (juiverie) und vom amerikanischen Imperialismus gebildet wird’, keineswegs beiläufig ist, sondern einen systematischen Stellenwert für nahezu jegliche islamistische Ideologiebildung hat. Die beispielsweise von Matthias Küntzel formulierte Annahme, der Antisemitismus habe für islamistische Ideologien ebenso wie für den Nationalsozialismus eine zentrale Bedeutung, weist Schmid explizit zurück.
Trotz dieser Kritikpunkte an seinem theoretischen Analyserahmen ist Schmid kein apologetischer Umgang mit den algerischen Islamisten vorzuwerfen. Im Gegenteil räumt seine Darstellung gründlich mit einigen Mythen auf, die solch ein Umgang mit der algerischen Katastrophe in der Linken hervorgebracht hat. Das betrifft sowohl die Unterscheidung zwischen einem radikalen bewaffneten Flügel der Islamisten, mit dessen Untaten man nicht zu tun haben will, und einem gemäßigt legalistischen Flügel vor allem bei der FIS, der sich in ein demokratisches Reformprojekt einbinden ließe. Schmid zeigt, wie wenig sich die gesellschaftlichen Vorstellungen beider Strömungen vor allem hinsichtlich der Durchsetzung der Sharia unterscheiden und wie fließend auch personell die Übergänge schon immer waren. Als verdienstvoll ist auch hervorzuheben, dass er die in Deutschland von Islamismusapologeten wie Werner Ruf gerne aufgenommenen Verschwörungstheorien verschiedener algerischer und französischer Autoren demontiert, wonach die übelsten Massaker islamistischer Terrorbanden in Wirklichkeit von verkleideten Sonderkommandos der algerischen Armee begangen worden seien.
Neben der Auseinandersetzung mit dem algerischen Islamismus, die einen zentralen Platz in dem Buch einnimmt, geht Schmid auch ausführlich auf andere soziale Kämpfe ein – etwa auf die politischen Bewegungen der Berber, der gewerkschaftlichen Kräfte und der linken Opposition zur FLN. Das umfangreiche Material spricht dabei oft für sich. Somit ist das Buch auch dort mit Gewinn zu lesen, wo man die politischen Schlussfolgerungen des Autors nicht teilt.« – iz3W Nr. 291, März 2006