FR – Rezension zu ›Sie suchten das Leben …‹

UNRAST VERLAG Pressestimmen FR – Rezension zu ›Sie suchten das Leben …‹

Jeder Gedanke an Rückkehr unmöglich

Flüchtlinge, die keinen Ausweg mehr sahen: ‘ Heike Herzog / Eva Wälde: Suizide als Folge deutscher Abschiebungspolitik ‘ – Heike Herzog und Eva Wälde porträtieren die Menschen hinter den Zahlen

VON KARIN CEBALLOS BETANCUR
FR, Das politische Buch, 12.7.2004

Bevor Alabamou Mamah am 10. Mai 1999 in Würzburg von der Brücke der Deutschen Einheit in den Tod sprang, hinterließ er einen Abschiedsbrief: ‘Sagt meinem Richter, dass ich vor ihm gehe. Ihm soll bewusst werden, dass niemandem die Welt gehört.’

Alabamou Mamah sah für sich keinen anderen Ausweg mehr. Sein Asylantrag war abgelehnt worden, ebenso wie die beiden Asylfolgeanträge, von denen er sich Schutz vor der Verfolgung in Togo versprochen hatte, wo er als Anhänger des Oppositionspolitikers Gilchrist Olympio zweieinhalb Jahre im Gefängnis misshandelt und gefoltert worden war. Freunden in Deutschland hatte Alabamou Mamah gesagt, dass er nicht freiwillig nach Togo zurückkehren werde, niemals.

Erschütternde Statistik

Die Statistik, die Heike Herzog und Eva Wälde ihrem Buch Sie suchten das Leben. Suizide als Folge deutscher Abschiebepolitik voranstellen, ist erschütternd: Seit der Änderung des Grundgesetzartikels 16 im Jahr 1993 starben an bundesdeutschen Grenzen 145 Menschen, 398 Flüchtlinge wurden beim Grenzübertritt verletzt. Mindestens 66 Menschen kamen bei Anschlägen auf Flüchtlingslager ums Leben, 636 erlitten Verletzungen; elf Flüchtlinge starben durch rassistische Angriffe auf der Straße, verletzt wurden mindestens 438. Bundesweit haben 111 Flüchtlinge wegen ihrer drohenden Abschiebung Suizid begangen oder starben beim Versuch zu fliehen, 47 davon in Abschiebehaft. Mindestens 493 Menschen haben sich aus Verzweiflung, Panik oder Protest selbst verletzt oder versucht umzubringen, davon 329 in Abschiebehaft; während der Abschiebung wurden 234 Flüchtlinge verletzt, fünf starben. 21 Flüchtlinge kamen nach ihrer Abschiebung zu Tode, mindestens 361 wurden misshandelt und gefoltert, 57 verschwanden spurlos. ‘Laut der Antirassistischen Initiative Berlin kamen durch staatliche Maßnahmen der BRD mehr Flüchtlinge ums Leben (302) als durch rassistische Übergriffe (78).’

Für ihre Untersuchung haben die Autorinnen Interviews mit Unterstützern, Freunden, Ärzten, politisch und kirchlich engagierten Menschen geführt, die den Flüchtlingen nahe gestanden haben, die sie in ihrem Buch porträtieren. Grundlage ihres Projekts bildete eine Aufstellung über Suizide von Flüchtlingen, 1998 erstellt vom Ökumenischen Kirchenasylnetz Bayern. ‘Mit den 23 Suiziden von Flüchtlingen in Bayern, die uns am Ende der Recherchephase im Dezember 2001 bekannt waren, haben wir nur die Spitze des Eisberges offen gelegt’, schreiben sie in ihrer Einführung. Heike Herzog arbeitet für das Institut für Medien- und Projektarbeit (Imedana) in Nürnberg, Eva Wälde ist als Sozialpädagogin in der Flüchtlings- und Migrantenarbeit tätig.

In alternierenden Kapiteln rekonstruieren die beiden Autorinnen Biografien, Fluchthintergründe und Asylverfahren, die persönlichen Geschichten der Flüchtlinge, denen der Gedanke an Rückkehr so unmöglich erschien, dass sie sich das Leben nahmen, nachdem ihnen in der Bundesrepublik jede Hoffnung auf Asyl genommen worden war. Obwohl es sich ausschließlich um bayerische Fälle handelt, lassen sich die Porträts als exemplarische Studien betrachten. Zwischengeschaltet sind Kapitel, die sich der Asylrealität und ihren rechtlichen Grundlagen widmen, den unterschiedlichen Aspekten von Flucht, Asyl und Ablehnung, gesellschaftlichen und familiären Aspekten einer Flucht nach Europa, der Traumatisierung von Flüchtlingen, staatlichen und individuellen Rassismen in der Bundesrepublik.

Während die Anerkennungsquote für Asylbewerber in den siebziger Jahren noch bei 90 Prozent lag, ist sie inzwischen auf unter fünf Prozent gesunken. An die Stelle von politisch ‘nützlichen’ Flüchtlingen aus den Staaten des Ostblocks sind mit dem Ende des Kalten Krieges Asylbewerber getreten, die zum ‘Symbol für Not und Elend in der Welt und damit für das Wohlstandsgefälle zwischen Norden und Süden sowie Westen und Osten’ geraten und häufig als ‘Scheinasylanten’ und ‘Wirtschaftsflüchtlinge’ diffamiert werden.

Mit euphemistischen Begrifflichkeiten wie der so genannten ‘Residenzpflicht’, die Flüchtlinge faktisch daran hindert, Kontakt zu Rechtsberatern und Unterstützern herzustellen, erwecken die herrschenden Diskurse den Anschein, ‘dass es in der Welt gerecht zugeht, auch wenn das Unrecht offensichtlich ist’.

Während die Europäische Union sich einerseits bemüht, die Grenzen für den freien Verkehr von ‘Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen, die ,nützen’ und verwertbar sind’ zu öffnen, baut sie andererseits weiter an den Mauern der ‘Festung Europa’, die unerwünschte Zuwanderung auf ein Minimum reduzieren soll. Vielfältige Rassismen, die dieses System stützen helfen, haben unterdessen in der Bundesrepublik ein Klima entstehen lassen, in dem gerade diejenigen, die man schon haben wollen würde, weg bleiben. ‘Eine erste Bilanz über die Green Card zeigte, dass nur etwa 5 000 Menschen diese nutzten, da neben der Befristung auf fünf Jahre ,Deutschland wegen des aufkeimenden Rechtsextremismus nicht das erste Ziel talentierter Ausländer’ sei.’

Beklemmende Einblicke

Ausführungen wie die zum Ablauf von Anhörungen, bei denen Flüchtlinge gegenüber Entscheidern des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erste Aussagen zu Fluchtweg und -hintergründen machen müssen (und sich dabei aufgrund der Stresssituation und ihrer mitunter traumatischen Erlebnisse häufig unverschuldet in Widersprüche verstricken), bei denen Rechtsanwälte nicht zugelassen sind, Gespräche, die die Basis für das gesamte weitere Asylverfahren bilden und im Schnitt 20 Minuten dauern, mögen manchmal dazu führen, das Buch zur Seite zu legen, weil das Weiterlesen Überwindung kostet.

Das Buch

Heike Herzog und Eva Wälde haben nicht nur eine beachtliche Fülle von Fakten- und Datenmaterial für ihre Untersuchung zusammengetragen, die eine gute und solide Einführung in die Asylthematik ermöglichen. Ihre Porträts der Menschen hinter den Zahlen, der ‘Suizide als Folge deutscher Abschiebepolitik’ bieten beklemmende Einblicke in eine Realität, von der man sich wünscht, sie möge anders aussehen. Weil die Studie diese Realität nicht nur abbildet, sondern auch ihre Entstehung überzeugend analysiert, ist es wichtig, dass es sie gibt.

Heike Herzog / Eva Wälde: Sie suchten das Leben. Suizide als Folge deutscher Abschiebungspolitik Unrast Verlag, Hamburg / Münster 2004, 200 Seiten, 15 Euro.

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Dokument erstellt am 11.07.2004 um 17:00:36 Uhr
Erscheinungsdatum 12.07.2004