‘Eine Welt, in der selbst Gedanken strafbar sind. Eine Welt, die Bücher verbietet. Eine Welt, in der niemand unglücklich sein darf. – Wer kennt sie nicht, die Klassiker des negativen Zukunftsromans? Und neben Orwell, Bradbury und Huxley dürfen offenbar auch Anthony Burgess und Stanislaw Lem nicht unerwähnt bleiben. Um diese fünf Planeten des dystopischen Universums kreist der Verfasser von ‘Clockwork Orwell’.
Thomas Nöske, seines Zeichens Romanautor und Kulturkritiker, legt mit seinem Werk, 1997 im Unrast-Verlag erschienen, ein ambitioniertes Sachbuch vor, mit Fußnoten, Anmerkungen, Zitaten und allem Drum und Dran. Angenehmerweise nimmt dieses wissenschaftliche Beiwerk jedoch keinen unerträglichen Umfang an; wäre auch Unsinn, da der Autor ausdrücklich kein ‘streng wissenschaftliches’ Werk schreiben wollte. – Was also können uns hypermodernen Multimedia-computermenschen die oben erwähnten Werke, die ja alle schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben, was können uns die düsteren futuristischen Szenarien von ‘Clockwerk Orange’ bis hin zum ‘Futurologischen Kongreß’ heute noch geben? Nöske versucht eine Antwort, und zwar jenseits von Dogmatismus und ideologischer Verkrampftheit, was sehr lobenswert ist. Quecksilbrig springt dieses essayhafte Buch durch verschiedene geistige Sphären und will auf rund 150 Seiten – in 7 Hauptkapitel unterteilt – ‘die kulturelle Wirklichkeit negativ-utopischer Science Fiction’ beleuchten, wobei sein Schöpfer weder vor Widersprüchen noch Unvollkommenheiten zurückscheut. Gerade letzteres ist bei ihm vielmehr geradezu Programm (oder eine neo-mystische Idee?): er entwirft den ‘komplex-unvollkommenen Menschen’, kontrastierend zum herrschenden Bild des immer funktionierenden Leistungsmaschinenmenschen. Herausfordernd bezeichnet er das ‘romanhafte Denken’ als eine wertvolle menschliche Fähigkeit, die im alles übertönenden rationalen Wissenschaftsgetöse unterzugehen droht. Nöskes teilweise verblüffende Schlußfolgerungen, die er aus Zitaten von Horkheimer/Adorno über Habermas bis zu Fromm (es fehlt kaum eine Ikone des grenzüberschreitenden (?) Denkens der Moderne) sowie aus eigenen Beobachtungen zieht, verdeutlichen oft das, was wir alle uns insgeheim schon selbst gefragt haben. – Genau: Warum stehen an unseren Schulen nicht Märchenkunde, Science Fiction und Fantasy gleichberechtigt neben Geschichte, Physik und Religion auf dem Lehrplan? (Diese reizvolle Möglichkeit ruft allerdings sofort die Vermutung hervor, daß unsere Schulen etwas ähnlich Grauenhaftes, Sinnentleertes und Phantasietötendes aus solchen ‘neuen’ Unterrichtsfächern machen würden wie aus den alten … aber das nur als kleiner Exkurs.)
Wenn er sich der Gegenwart widmet, ist Nöske am stärksten. Die Fehlbarkeit des Menschen als Chance, keineswegs als plumpes Laissez-faire gemeint, sondern intelligent und spritzig durchdacht – ein weitreichendes, klares Plädoyer für die Freiheit der Phantasie, der Kunst – das ist etwas, was in unserer Zeit nicht selten schmerzhaft fehlt.
Das, ich nenne es mal das ‘Allzu-Verschwommene’ unserer Tage, das einen klaren Gegenpart durchaus gebrauchen kann, liefert schon genügend Argumente für ein solches Buch. – Verirrt Nöske sich jedoch, um seine Ideen/Thesen zu untermauern, in die fernere Vergangenheit, so mutmaßt er nur und schlägt einen Weg ein, der ebenso völlig falsch sein kann (Stichwort ‘Steinzeit’, was er ein paar Seiten später in den Fußnoten auch zugibt, nach dem Motto, ‘wir wissen nicht, wie die Menschen damals lebten’). Und was das Ende des Buches, ‘eine Art Ausklang’, betrifft, so wird Nöske hier vollends vage – geschickt entschuldigt er das in der Einleitung damit, daß bei seiner Herangehensweise der Schlußteil nur ‘skizzenhaft und verspielt’ gehalten werden KANN – was er da aber in Sachen ‘Moderne Alternativen’ zu Papier bringt, unterbietet diese Ankündigung noch: das ist wirklich mehr als enttäuschend.
Wie gesagt, im Aktuellen ist er noch am besten – scharfblickend, aber einäugig. Während der gesamten Lektüre fragte ich mich, warum Frauen so gut wie gar nicht in ‘Clockwerk Orwell’ vorkommen. Na ja, es liegt vermutlich daran, daß ein Mann dieses Buch schrieb! Lieber Thomas Nöske: Noch nie was von Karin Boyes großartiger Utopie ‘Kallocain’ (Malik Verlag, 1984) gehört? – Es gibt noch mehr Autorinnen, die sich mit dem Genre befassen, aber sie werden nicht anerkannt. That’s it. Und woher kommt das??? Hmmm … Als hilfreiche Lektüre zum Thema kann ich übrigens auch ‘Das Gastmahl der Xanthippe’ (eFeF-Verlag 1991) empfehlen, das in mindestens einem ganzen Kapitel sich den düsteren Utopien verschiedener männlicher Literaten widmet – ja, überaus ärgerlich, daß nichts dergleichen Eingang gefunden hat in Nöskes Sachbuch! Wenn Frauen überhaupt erwähnt werden, dann als ‘künstlich produzierter Mythos’, der um Hildegard Knef gesponnen wird, oder als David Bowies Ehefrau (deren Zitat im übrigen wegen seiner Vollständigkeit fremdartig wirkt wie ein Mondstein, so gar nicht zum Thema passend, wohl aus Versehen so hineingelangt? Denn anstatt nur David Bowies Kontrollsucht zu belegen, verschafft es uns einen kleinen Einblick in das Leben seiner Frau) – niemals aber als selbständige, ebenfalls Zukunftsvorstellungen erschaffende Persönlichkeiten! ‘Kallocain’! Oder wenigstens irgendein Hinweis, eine Fußnote – irgendetwas! – Hätte sich der Autor etwas mehr mit der ‘anderen Hälfte’ der Menschheit befaßt – wer weiß, möglicherweise wäre dann sein Schlußwort etwas gehaltvoller ausgefallen. Na klar, das ist reine Spekulation! Unter den Blinden mag ja der Einäugige König sein, aber ich hätte mehr erwartet. Dennoch ist dieses Buch erfrischend anders, und das ist schon einiges wert.’